Die Tochter des Fotografen
sporadisch aus manch rustikaler Pension oder bescheidenem Hotel am Meer an. Er hatte sich in eine Flötistin verliebt, das Wetter war grandios, das Bier in Deutschland außerordentlich. Norah hörte zu – sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen und nicht zu viele Fragen zu stellen. Paul war schließlich erwachsen, über eins achtzig, hatte Davids dunklen Teint und ihre grünen Augen. Sie stellte ihn sich vor, wie er barfuß am Strand entlanglief, sich zu seiner Freundin hinunterbeugte, ihr etwas ins Ohr flüsterte, sein Atem einer Berührung gleich.
Sie war so diskret gewesen, ihn nicht mal nach seinem Reisekalender zu fragen, so daß sie ihn nicht hatte erreichen können, als der Anruf aus dem Krankenhaus kam. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, ihm die schockierende Nachricht zu überbringen: Vor einer Woche war David durch die Baumschule gejoggt und hatte ganz plötzlich einen Herzanfall erlitten. Nur wenig später war er gestorben.
|426| Sie öffnete die Augen. Die Welt war lebhaft und diesig zugleich in dieser sommerlichen Spätnachmittagshitze.
»Keine Sorge«, sagte Bree. »Er wird kommen.«
»Er war nicht auf der Beerdigung«, sagte Norah. »Das werde ich mir ein Leben lang vorwerfen. Sie haben sich nie richtig ausgesprochen, David und Paul. Ich glaube nicht, daß Paul jemals über Davids Auszug hinweggekommen ist.«
»Und du?«
Norah sah zu Bree hinüber, auf ihr kurzes, stacheliges Haar, ihre klare Haut, ihre ruhigen, beharrlichen grünen Augen. Dann wandte sie den Blick wieder ab.
»Die Frage hätte von Ben kommen können. Ich glaube, du verbringst zuviel Zeit mit Pastoren.«
Bree lachte, ließ aber nicht locker. »Es ist aber nicht Ben, der dich fragt, sondern ich.«
»Ich weiß nicht«, antwortete Norah langsam und dachte an das letzte Mal, daß sie David gesehen hatte, als er nach dem Joggen auf der Veranda saß und ein Glas Eistee trank. Sie waren sechs Jahre geschieden und zuvor achtzehn Jahre verheiratet gewesen. Fünfundzwanzig Jahre, die sie ihn gekannt hatte, ein Vierteljahrhundert, die Hälfte ihres Lebens. Als der Anruf mit der Nachricht von seinem Tod kam, hatte sie es einfach nicht geglaubt. Unmöglich, unvorstellbar: eine Welt ohne David. Sie hatte den Hörer aufgelegt und war wieder an die Arbeit gegangen. Erst später, als sie unter dem dichten grünen Blätterdach der Sommerbäume hindurchging, hatte die Trauer sie eingeholt. »Es gibt so viele Dinge, die ich ihm gerne gesagt hätte. Aber immerhin sprachen wir miteinander. Manchmal kam er spontan vorbei. Reparierte irgendwas. Sagte hallo. Ich glaube, er war einsam.«
»Wußte er von Frederic?«
»Nein. Einmal habe ich versucht, es ihm zu erzählen, aber er schien es nicht zu registrieren.«
»Das ist ganz David«, sagte Bree. »Er und Frederic sind so verschieden.«
|427| »Ja, das sind sie.«
Ein Bild von Frederic, wie er draußen in der matten Lexingtoner Abenddämmerung stand und Asche um die Rhododendren streute, ging ihr durch den Kopf. Vor etwas über einem Jahr hatten sie sich kennengelernt, an einem der vielen ausgedörrten Tage, in einem der unzähligen Gärten. IBM, die sie mit so viel Mühe an Land gezogen hatte, war noch immer einer von Norahs lukrativsten Kunden, und so war sie trotz Kopfschmerzen und fernem Donnergrollen zum alljährlichen Firmenpicknick gegangen. Frederic saß abseits und schaute leicht mürrisch und wenig gesprächig drein. Norah stellte sich einen Teller zusammen und setzte sich neben ihn. Wenn er nicht plaudern wollte, dann war ihr das gerade recht. Doch er lächelte und begrüßte sie herzlich, riß sich aus seinen Gedanken und sprach englisch mit einem schwachen französischen Akzent – er war aus Quebec. Sie redeten stundenlang, bis der Sturm aufzog, die anderen ihre Sachen zusammenpackten und gingen. Als der Regen einsetzte, fragte er sie, ob sie mit ihm zu Abend essen wolle.
»Wo ist Frederic eigentlich?« fragte Bree. »Hattest du nicht gesagt, er würde kommen?«
»Das hatte er auch vor, aber er wurde von der Arbeit aus nach Orléans abberufen. Und er wollte gern hin, da er dort entfernte Verwandte hat. Irgendeinen Cousin zweiten Grades, der in einem Ort wohnt, der Châteauneuf heißt. Würdest du nicht auch gern in einem Ort mit diesem Namen wohnen?«
»Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es auch dort verstopfte Straßen und Tage, an denen die Frisur nicht sitzt.«
»Ich hoffe nicht. Ich hoffe, man geht dort jeden Morgen zum Markt und kommt mit frischem Brot und Kübeln
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