Die Tochter des Fotografen
großgezogen und war durch die Welt gereist. Sie war Knospe, Blüte, |435| Stengel und Blatt in einem, sie war die lange weiße Wurzel, die tief in die Erde hineinwuchs. Und sie war froh darum.
Das Paar sprach englisch, und während sie vorübergingen, diskutierten sie darüber, wo sie zu Abend essen könnten. Ihr Akzent war ein südlicher – Texas, vermutete Norah – und der Mann wollte ein Restaurant finden, wo es Steak gab, eines mit vertrauter Küche.
»Ich bin die Amerikaner so leid«, sagte Paul, sobald sie außer Hörweite waren. »Freuen sich wie die Schneekönige, wenn sie mal einen anderen Amerikaner treffen. Als wären zweihundertfünfzig Millionen von unserer Sorte nicht schon genug. Anstatt einmal den Kontakt zu den Franzosen zu suchen, wo sie doch in Frankreich sind.«
»Du hast wohl mit Frederic gesprochen.«
»Klar, warum auch nicht. Was die Arroganz der Amis angeht, liegt Frederic genau richtig. Wo ist er überhaupt?«
»Er hat geschäftlich zu tun. Aber er kommt heute abend.«
Und wieder schoß ihr das Bild von Frederic durch den Kopf, wie er durch die Tür des Hotelzimmers tritt, seinen Schlüssel auf der Kommode ablegt und seine Taschen abtastet, um sicherzugehen, daß seine Brieftasche noch da ist. Er trug blütenweiße Hemden mit adretten angeknöpften Kragen. Jeden Abend kam er nach Hause und warf seine Krawatte über die Stuhllehne, während seine tiefe Stimme ihren Namen brummte. Vielleicht war es seine Stimme gewesen, die sie als erstes geliebt hatte. Sie hatten so viel gemeinsam – erwachsene Kinder, die Scheidung, anspruchsvolle Jobs –, doch da Frederics Leben sich in einem anderen Land abspielte und zur Hälfte in einer anderen Sprache, empfand sie es als exotisch – als vertraut und fremd zugleich.
»Wie war dein Urlaub bislang?« fragte Paul. »Gefällt dir Frankreich?«
»Mir geht es gut hier«, sagte Norah, und es stimmte. Frederic fand, daß die Überbevölkerung Paris zugrunde gerichtet hatte, doch für Norah hatte die Stadt einen unerschöpflichen |436| Charme: die Boulangerien und Patisserien, die Crêpes, die auf der Straße verkauft wurden, die Türme der altehrwürdigen Gebäude, ihre Glocken. Ebenso die Klänge, die Sprache, die wie ein Strom dahinfloß, von der ab und zu ein Wort nach oben drang wie ein Fisch. »Wie sieht’s bei dir aus? Wie ist die Tour? Bist du noch immer verliebt?«
»Allerdings«, sagte er, und sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Dann sah er ihr genau ins Gesicht. »Wirst du Frederic heiraten?«
»Ich weiß es nicht. Der Tod deines Vaters hat die Situation nicht verändert.«
Sie fuhr mit ihrem Finger an der scharfen Kante der Broschüre entlang. Dies war die große Frage, natürlich. Sollte sie ihr Leben ändern? Sie liebte Frederic, sie war nie glücklicher gewesen, und doch konnte sie durch dieses Glück hindurch schon auf eine Zeit blicken, in der ihr seine liebenswerten Gewohnheiten auf die Nerven gehen könnten und umgekehrt. Er mochte die Dinge, wie sie waren. Alles, was er tat, tat er mit peinlicher Präzision, ob es um Schweißnähte oder Steuererklärungen ging. Was dies anging – es war aber auch das einzige –, erinnerte er sie an David. Sie war nun alt genug, um zu wissen, daß nichts perfekt war, daß nichts blieb, wie es war, nicht einmal sie selbst. Aber genauso richtig war es, daß die Luft sich veränderte, sich elektrisierte, in ihr pulsierte, sobald er den Raum betrat. Es war die Wahrheit, daß sie abwarten wollte, was als nächstes passierte. »Ich weiß es nicht«, wiederholte sie langsam. »Bree ist bereit, die Firma zu übernehmen. Frederics Vertrag läuft noch zwei Jahre – wir müssen also in der nächsten Zeit noch keine Entscheidung treffen. Aber ich kann mir ein Leben mit ihm vorstellen. Ich denke, das ist ein erster Schritt.«
Paul nickte. »War es beim letztenmal auch so? Mit Dad, meine ich?«
Norah sah ihn an und fragte sich, was sie darauf antworten sollte. »Ja und nein«, sagte sie schließlich. »Ich bin heute |437| sehr viel selbständiger. Damals wollte ich, daß jemand für mich sorgt, denke ich. Ich wußte noch nicht sehr viel über mich.«
»Dad mochte es, für andere zu sorgen.«
»Ja, das ist wahr.«
Paul lachte kurz und spitz. »Ich kann nicht glauben, daß er tot sein soll.«
»Ich weiß«, sagte Norah. »Ich auch nicht.«
Eine Weile saßen sie schweigend da in der heißen, trockenen Luft. Norah wendete ihr Faltblatt, und ihr kam die Kühle des Museums, der Widerhall der Schritte
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