Die Tochter des Fotografen
in den Sinn. Fast eine Stunde hatte sie vor dem Gemälde gestanden und den Wirbel der Farben, den sicheren und lebhaften Pinselstrich studiert. Was hatte van Gogh die Inspiration gegeben? Etwas Schimmerndes, schwer Faßbares. David war durch die Welt gegangen und hatte seine Kamera auf die winzigsten Details gerichtet, war von Licht und Schatten besessen gewesen und hatte versucht, die Dinge im Hier und Jetzt festzuhalten. Nun gab es ihn nicht mehr, genausowenig seine Art, die Welt zu sehen.
Paul stand auf und winkte durch den Park, während die Traurigkeit auf seinem Gesicht einer intensiven Freude wich, die eine Empfängerin hatte und nur dieser galt. Norah folgte seinem Blick über das trockene Gras hinweg bis zu einer jungen Frau mit einem langen, feinen Gesicht und einem cremefarbenen Teint. Ihre Haare fielen in weichen Dreadlocks bis zur Hüfte. Sie war schlank und elegant, trug ein weiches Kattunkleid und bewegte sich mit der Anmut und Zurückhaltung einer Tänzerin.
»Das ist Michelle«, sagte Paul und stand bereits. »Ich bin sofort wieder hier.«
Norah beobachtete ihn, wie er den Weg entlanglief, als würde er von einem Magneten angezogen. Michelles Züge erhellten sich, als sie ihn sah. Er nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände, und sie küßten sich, dann hob sie ihre Hand, |438| und ihre Handflächen streiften sich kurz – eine Geste, die so intim war, daß Norah wegsah. Mit gesenkten Köpfen durchquerten sie nun den Park und unterhielten sich. An einer Stelle blieben sie stehen, Michelle legte ihre Hand auf Pauls Arm, und Norah wußte, daß er es ihr gesagt hatte.
»Mrs. Henry«, sagte sie, als sie die Bank erreichten. Sie hatte lange, kühle Finger. »Das mit Pauls Vater tut mir sehr leid.« Selbst ihr Akzent war leicht exotisch: Sie hatte mehrere Jahre in London gelebt. Ein paar Minuten lang standen sie zusammen im Park und unterhielten sich. Paul schlug vor, gemeinsam zu Abend zu essen, und Norah war versucht einzuwilligen. Sie wollte bis spät in die Nacht mit Paul zusammensitzen, mit ihm reden, doch sie zögerte, da sie einer Wärme zwischen den beiden gewahr wurde, obendrein trieb es sie, allein zu sein. Erneut dachte sie an Frederic, der vielleicht schon zurück in der Pension war und die Krawatte schon über die Stuhllehne geworfen hatte.
»Wie sieht es mit morgen aus?« fragte sie. »Wie wär’s, wenn wir zusammen frühstücken? Ich möchte alles über eure Tournee erfahren. Ich möchte alles über die Flamenco-Gitarristen in Sevilla wissen.«
Als sie auf dem Weg zur Metro die Straße entlangliefen, nahm Michelle Norahs Arm. Paul ging ein paar Meter vor ihnen her, schlaksig und breitschultrig.
»Sie haben einen wunderbaren Sohn großgezogen«, sagte sie. »Es ist wirklich schade, daß ich seinen Vater nicht kennenlernen werde.«
»Das wäre gar nicht so einfach geworden. Ihn kennenzulernen. Aber ich finde es auch schade.« Sie gingen nebeneinanderher. »Haben Sie die Tour genossen?«
»Reisen vermitteln wirklich ein wunderbares Freiheitsgefühl«, stellte Michelle fest.
Es war ein lauer Abend; die Lichter der Metrostation, in die sie hinabstiegen, blendeten sie. Ein Zug nahte mit lauter werdendem Geratter. Gerüche vermengten sich: Unter einen |439| Hauch von Parfüm mischte sich der scharfe Geruch von Öl und Metall.
»Komm morgen gegen neun vorbei«, sagte Norah zu Paul, ihre Stimme gegen den Lärm erhebend. Als ihr Zug dann einfuhr, beugte sie sich vor, nah an sein Ohr, und schrie: »Er hat dich geliebt! Er war dein Vater, und er hat dich geliebt!«
Einen winzigen Augenblick lang konnte sie Pauls Gesicht sehen: den Schmerz des Verlustes. Er nickte. Für mehr blieb keine Zeit. Der Zug rauschte heran, und im plötzlichen Windzug fühlte sie, wie ihr das Herz schwer wurde: ihr Sohn – hier in dieser Welt. Und David, der auf rätselhafte Weise entschwunden war. Der Zug hielt kreischend, und die Türen sprangen mit einem Stöhnen auf. Norah stieg ein und nahm am Fenster Platz, sah Paul ein letztes Mal aufblitzen, erhaschte einen letzten flüchtigen Blick, wie er mit gesenktem Kopf und den Händen in den Hosentaschen davonging. Dann war er verschwunden.
Als sie an ihrer Haltestelle ankam, hatte sich bereits das körnige Licht der Abenddämmerung ausgebreitet. Über Kopfsteinpflaster schritt sie zur gelb gestrichenen, schwach erleuchteten Pension, deren Fenster mit üppigen Blumenkästen dekoriert waren. Im Zimmer war es still, und ihre Sachen lagen unverändert herum – Frederic
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