Die Tochter des Fotografen
voller Blumen nach Hause. Wie auch immer – ich habe Frederic gesagt, er solle hinfahren. Er und Paul verstehen sich zwar wirklich gut, aber es ist besser, wenn ich ihm diese Nachricht allein überbringe.«
»Ja. Ich habe auch vor zu verschwinden, wenn er kommt.«
|428| »Danke«, sagte Norah und nahm ihre Hand. »Danke für alles und dafür, daß du mir bei der Beerdigung geholfen hast. Die letzten zwei Wochen hätte ich ohne dich nicht überstanden.«
»Du stehst tief in meiner Schuld«, sagte Bree lächelnd, doch dann sah sie nachdenklich aus. »Ich fand, es war eine schöne Beerdigung. Wenn man so etwas überhaupt sagen kann. Es waren so viele Leute da. Es hat mich überrascht, zu sehen, wie viele Menschen Davids Leben begleitet haben.«
Norah nickte. Auch sie war überrascht gewesen, als sich Brees kleine Kirche so sehr füllte, daß sich zu Beginn des Gottesdienstes drei zusätzliche Reihen hinter den Holzbänken gebildet hatten. Die vorangegangenen Tage waren wie ausgeblichen gewesen – Ben, der sie sanft geleitet hatte, Musik und Texte auszuwählen, den Sarg und die Blumen, der ihr geholfen hatte, den Nachruf zu schreiben. Dennoch war es eine Erleichterung gewesen, diese faßbaren Dinge tun zu müssen, und Norah war in einer schützenden Wolke aus stummer Wirkkraft von Aufgabe zu Aufgabe geschritten, bis der Gottesdienst begann. Den Leuten mußte es komisch vorgekommen sein, wie bitterlich sie dann weinte, doch sie trauerte nicht nur um David. Gemeinsam hatten sie vor all diesen Jahren beim Trauergottesdienst für ihre Tochter gestanden, und schon dort hatte sich der gemeinsame Verlust zwischen sie gestellt.
»Es war die Praxis«, sagte Norah. »Die Praxis, die er all die Jahre hatte. Die meisten sind Patienten gewesen.«
»Ich weiß. Es war unglaublich. Die Leute schienen ihn für so etwas wie einen Heiligen gehalten zu haben.«
»Sie waren auch nicht mit ihm verheiratet«, sagte Norah spitz. Sie suchte den Park erneut nach Paul ab, doch er war nicht zu sehen. »Ach, ich kann einfach nicht glauben, daß David wirklich tot ist.« Selbst jetzt, Tage später, sorgten die Worte für einen kleinen Schock. »Ich fühle mich nun irgendwie so alt.«
|429| Bree nahm ihre Hand. Sie saßen ein paar Minuten still da. Brees Handinnenfläche war weich und warm, und Norah fühlte, wie sich der Augenblick ausdehnte, anschwoll, als könne er die ganze Welt einnehmen. Sie erinnerte sich an ein ähnliches Gefühl, das sie vor Jahren gehabt hatte, als Paul noch ein Säugling war und sie ihn in den milden dunklen Nächten stillte. Nun war er erwachsen, stand an einem Bahnhof, auf dem Bürgersteig oder schritt über eine Straße. Er blieb vor Schaufenstern stehen, kramte in seiner Tasche nach einem Ticket oder hielt sich die Hand vor Augen, als Schutz vor der Sonne. Er war aus ihrem Körper geboren und ging nun ohne sie durch die Welt – das war das erstaunliche.
Sie dachte auch an Frederic, wie er in einem Konferenzzimmer saß, wie er nickte, während er seine Unterlagen überflog, wie er seine Hände flach auf den Tisch legte, um mit seiner Rede zu beginnen. Seine Arme waren dunkel behaart und seine Fingernägel lang und quadratisch. Er rasierte sich zweimal täglich, und wenn er es einmal vergaß, kratzten seine frischen Stoppeln an ihrem Hals, wenn er sich nachts nah an sie schmiegte und sie hinters Ohr küßte, um sie zu erregen. Er aß weder Brot noch Süßigkeiten; wenn die Zeitung am Morgen zu spät kam, wurde er sehr böse. All diese kleinen Gewohnheiten, liebenswert und irritierend zugleich, machten Frederic aus. Heute abend würde sie ihn in ihrer gemeinsamen Pension am Fluß treffen. Sie würden Wein trinken, sie würde in der Nacht aufwachen, das Mondlicht würde hereinscheinen, und sein gleichmäßiger Atem würde weich den Raum erfüllen. Er wollte sie heiraten, und auch dies war eine zu treffende Entscheidung.
Norah rutschte das Buch aus der Hand, und sie bückte sich, um es aufzuheben. Van Goghs
Sternennacht
schmückte das Faltblatt, das sie als Lesezeichen benutzt hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, durchquerte Paul den Park.
»Oh«, sagte sie mit der plötzlichen Freude, die sie immer |430| durchfuhr, wenn sie ihn sah: dieser Mensch, ihr Sohn, hier in dieser Welt. Sie stand auf. »Da ist er, Bree. Paul ist hier.«
»Er ist verdammt hübsch«, erwiderte Bree und stand ebenfalls auf. »Das muß er von mir haben.«
»Ganz bestimmt«, pflichtete Norah ihr bei. »Doch wo er sein Talent herhat,
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