Die Tochter des Fotografen
fertig war, und das Sonnenlicht schien noch immer durch die Fenster, nur etwas längere Schatten werfend. David stand eine Weile im Bad, und das glänzende Messing und die Stille gaben ihm ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit. In der Küche klingelte das Telefon, der Anrufbeantworter sprang an, und eine fremde Stimme meldete sich, sprach gehetzt von Flugtickets nach Montreal und unterbrach sich wieder, um zu sagen: »Ach, Mist, natürlich, ich habe ganz vergessen, daß du mit Frederic in Europa bist.« Und auch David fiel es wieder ein – sie hatte es ihm erzählt, aber er hatte es vergessen, nein, verdrängt, daß sie nach Paris geflogen war, um dort Urlaub zu machen. Daß sie jemanden kennengelernt hatte, einen Kanadier aus Quebec, der draußen vor der Stadt in den kastenförmigen IBM-Gebäuden arbeitete und französisch sprach. Ihre Stimme veränderte sich, wenn sie von ihm redete, wurde weicher, eine Stimme, die er nie zuvor vernommen hatte. Er sah Norah vor sich, den Telefonhörer |423| zwischen Kinn und Schulter geklemmt, während sie Daten in den Computer eingab, wie sie aufschaute, um zu bemerken, daß es schon Stunden zu spät fürs Abendessen war. Norah, wie sie durch die Flughafenkorridore schritt und die Gruppen zu ihren Bussen, Restaurants, Hotels und Abenteuern führte, die sie so verläßlich organisiert hatte.
Na ja, wenigstens würde sie sich über den Wasserhahn freuen. Genau wie er sich selbst darüber freute – denn er hatte sauber und sorgfältig gearbeitet. Er stand in der Küche und streckte seine Arme weit aus, um sich auf das Ende seiner Laufstrecke vorzubereiten; das Sonnenlicht fiel schräg durch die Blätter herein und warf Muster auf den Boden.
Noch einmal nahm er sich den gelben Notizblock.
»Ich habe den Wasserhahn im Bad repariert«, schrieb er. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Dann ging er hinaus, schloß die Tür hinter sich und lief davon.
|424| 20. Kapitel
Juli 1988
N ORAH SASS MIT EINEM AUFGESCHLAGENEN BUCH im Schoß auf einer Steinbank in den Gärten des Louvre und sah den silbernen Pappelblättern zu, wie sie im Wind flatterten. Tauben trippelten um ihre Füße im Gras herum, pickten hier und da und ordneten ihr schimmerndes Gefieder.
»Er kommt zu spät«, sagte sie zu Bree, die, in einer Zeitschrift blätternd, neben ihr saß und ihre langen Beine an den Knöcheln kreuzte. Fünfzig war Bree nun, und sie war schön, groß und gertenschlank. Türkisfarbene Ohrringe streiften ihre gebräunte Haut, und ihr Haar war von einem reinen, silbernen Weiß. Während der Bestrahlung hatte sie es sehr kurz schneiden lassen und gesagt, daß sie keine Sekunde ihres Lebens weiter darauf verschwenden wolle, einer Mode nachzugehen. Sie hatte Glück gehabt und wußte dies – man hatte den Tumor frühzeitig erkannt, und der Krebs war nun seit fünf Jahren gebannt. Dennoch hatte diese Erfahrung sie verändert, im kleinen wie im großen. Sie lachte mehr und nahm sich häufiger frei. Am Wochenende setzte sie sich für die Errichtung von Seniorenresidenzen ein, wobei sie während des Baus eines Hauses im Osten Kentuckys einen lebhaften, lustigen und warmherzigen Mann kennengelernt hatte. Er hieß Ben, ein seit kurzem verwitweter Pfarrer. Sie trafen sich erneut bei einem Projekt in Florida und ein weiteres Mal in Mexiko. Auf dieser letzten Reise hatten sie still und heimlich geheiratet.
»Paul wird schon kommen«, sagte Bree jetzt und schaute auf. »Es war immerhin seine Idee.«
|425| »Das stimmt«, sagte Norah. »Aber er ist verliebt. Ich hoffe nur, er erinnert sich noch daran.«
Die Luft war heiß und trocken. Norah schloß ihre Augen und dachte an den späten Apriltag, als Paul, der zwischen zwei Auftritten für ein paar Stunden nach Hause gekommen war, sie im Büro überrascht hatte. Groß und immer noch schlaksig, hatte er auf der Schreibtischkante gesessen und ihren Briefbeschwerer von einer Hand in die andere gleiten lassen, während er sie in seine Pläne für die sommerliche Europatournee einweihte, die unter anderem sechs Wochen Spanien vorsah, um dort von anderen Gitarristen zu lernen. Sie und Bree hatten eine Reise nach Frankreich organisiert, und als Paul auffiel, daß sie alle am selben Tag in Paris sein würden, schnappte er sich einen Stift und kritzelte LOUVRE auf den Wandkalender in Norahs Büro: 31. Juli, fünf Uhr. »Wir treffen uns im Garten, und ich lade euch zum Abendessen ein.«
Wenige Wochen später hatte er sich nach Europa verabschiedet und rief sie
Weitere Kostenlose Bücher