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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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guter Mensch gewesen. Er hatte eine Praxis geführt und sich um jene, die Hilfe brauchten, gekümmert.
    Und er hatte ihre Tochter weggegeben und es ihr nie gesagt.
    Norah schlug mit der Faust auf die Spüle, so daß die Gläser klirrten. Sie machte sich einen Gin Tonic und stiefelte nach oben. Sie legte sich hin, stand auf, rief Frederic an und legte wieder auf, als der Anrufbeantworter dran war. Nach einer Weile ging sie zurück in Davids Studio. Alles war noch genau wie vorher, die Luft warm und unbewegt, die Fotos und Kisten über den Boden verstreut. Mindestens 50 000 Dollar, hatten die Kuratoren geschätzt. Noch mehr, wenn es handschriftliche Notizen zum Arbeitsprozeß gäbe.
    Alles war genau wie vorher – und doch war nichts mehr so wie zuvor.
    Norah nahm die erste Kiste und schob sie durch den Raum. Sie hob sie auf die Anrichte und stemmte sie von dort auf die Fensterbank, von wo aus sie den Garten überblickte. Sie hielt kurz inne, um Luft zu holen, bevor sie das Fenster öffnete und die Kiste nach draußen stieß, mit beiden Händen, und sie mit einem befriedigenden Krachen auf den Boden fallen hörte. Sie ging zurück, um die nächste zu holen und wieder die nächste. Sie war nun all das, was sie vorhin hatte sein wollen: entschlossen, forsch – ja schonungslos. In weniger als einer Stunde war das Studio leer geräumt. Sie ging zurück ins Haus, an den zerbrochenen Kisten in der Einfahrt vorbei, aus denen Fotos herauspurzelten und sich im späten Nachmittagslicht auf dem Rasen verteilten.
    Drinnen duschte sie und stellte sich so lange unter das brausende Wasser, bis nur noch kaltes kam. Sie zog ein weites Kleid an, mixte sich noch einen Drink und setzte sich aufs Sofa. Ihre Arme schmerzten vom Heben der Kisten. Sie schenkte sich |487| noch mal nach und setzte sich wieder. Als es Stunden später dunkel wurde, saß sie noch immer da. Das Telefon klingelte, und sie hörte sich selbst, auf Band, dann Frederic, der aus Frankreich anrief. Seine Stimme war so sanft und ebenmäßig wie ein fernes Ufer. Sie sehnte sich dorthin, an diesen Ort, wo ihr Leben einen Sinn ergeben hatte, doch sie nahm den Hörer nicht ab und rief auch nicht zurück. Aus weiter Ferne hörte man einen Zug. Sie zog die Decke hoch und glitt in die Dunkelheit dieser Nacht.
    Sie döste ein und wachte wieder auf, doch sie schlief nicht. Immer wieder stand sie auf, um sich noch etwas zu trinken zu holen, und schritt durch die leeren Räume, in denen das Mondlicht seine Schatten warf, schenkte sich tastend etwas ein. Ob Tonic, Limonensaft oder Eis – nach einer Weile kümmerte es sie nicht mehr. Irgendwann träumte sie, daß Phoebe im Raum stand, irgendwie aus der Wand herausgetreten war, wo sie all die Jahre gesteckt hatte, während Norah tagaus, tagein an ihr vorbeigegangen war, ohne sie wahrzunehmen. Sie wachte auf und weinte. Sie spülte den Rest Gin den Abfluß hinunter und trank ein Glas Wasser.
    Im Morgengrauen schlief sie schließlich ein. Als sie am Mittag aufwachte, stand die Eingangstür sperrangelweit offen, und der Garten war voller Fotos: Sie hatten sich in den Rhododendren verfangen, hafteten am Fundament oder hingen in Pauls alter, rostiger Schaukel fest. Überall waren Arme, Augen, Haut, die Stränden ähnelte, hier der Blick auf eine Haarsträhne, dort auf Blutkörperchen, die sich wie Öl auf der Wasseroberfläche sammelten. Momentaufnahmen ihres Lebens, so wie David es gesehen, wie David es in eine Form zu pressen versucht hatte. Negative, dunkles Zelluloid, über den Rasen verstreut. Norah hörte schon die schockierten und empörten Stimmen der Kuratoren, ihrer eigenen Freunde, die ihres Sohnes, sogar ihre eigene, stellte sich vor, wie sie riefen: »Du zerstörst ein Stück Geschichte.«
    »Nein«, antwortete sie. »Ich beanspruche es für mich.«
    |488| Sie trank zwei weitere Glas Wasser, nahm eine Aspirin und fing an, die Kisten zum anderen Ende des überwucherten Gartens zu schleppen. Eine Kiste – die mit den Bildern des aufwachsenden Paul – schob sie in die Garage, um sie aufzuheben. Es war heiß, und sie hatte Kopfschmerzen; sie sah Sternchen tanzen, wenn sie sich zu abrupt aufrichtete. Sie dachte an diesen lange vergangenen Tag am Strand, an das glitzernde Wasser, die silbernen Schlieren des Schwindels und an Howard, wie er in ihr Blickfeld getreten war.
    Hinter der Garage lagen Steine aufgetürmt. Nacheinander zog sie sie hervor und ordnete sie in einem weiten Kreis an. Sie lud die erste Kiste mit den glänzenden,

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