Die Tochter des Fotografen
die Leere, die sie nach der Geburt verspürt hatte, Freude und Leere ineinander verwoben; und sie dachte an den langen, schwierigen Weg, den sie eingeschlagen hatte, um bis zu jenem Moment steter innerer Ruhe zu kommen. »Meine Tochter ist gestorben«, sagte sie. »Das war ein Problem, ja.«
»Phoebe ist nicht gestorben«, sagte Caroline ruhig und schaute sie an, und Norah fühlte sich in diesem Augenblick ebenso überrumpelt wie vor all den Jahren. Sie starrte vor sich hin, während die vertraute Welt um sie herum ins Wanken geriet. »Phoebe ist mit dem Downsyndrom zur Welt gekommen. David hat mich gebeten, sie nach Louisville zu bringen, wo diese Kinder in der Regel hingeschickt wurden. 1964 war es nicht ungewöhnlich, so zu handeln. Die meisten Ärzte hätten dasselbe geraten. Doch ich konnte sie nicht dort zurücklassen. Ich habe sie mitgenommen. Ich habe sie großgezogen. Norah«, fügte sie sanft hinzu. »Phoebe lebt. Ihr geht es gut. Wir sind nach Pittsburgh gezogen.«
Norah saß regungslos da. Die Vögel im Garten flatterten und zwitscherten herum. Aus irgendeinem Grund dachte sie daran, wie sie einmal in Spanien durch ein ungesichertes Gitter |482| gefallen war. Sorglos war sie die sonnenbeschienene Straße entlanggegangen. Dann ein Ruck, und sie hatte sich bis zur Hüfte in einem Graben wiedergefunden, mit einem verstauchten Knöchel und langen, blutigen Kratzern an den Waden. »Alles in Ordnung, alles in Ordnung«, hatte sie den Menschen, die ihr heraushalfen und sie zum Arzt brachten, immer wieder versichert. Heiter und unbeeindruckt, während das Blut aus den Wunden herausrann: alles in Ordnung. Erst später, als sie sicher und allein in ihrem Zimmer saß, als sie die Augen schloß und wieder diesen Ruck spürte, diesen Kontrollverlust, hatte sie geweint. Genauso fühlte sie sich nun auch. Zitternd klammerte sie sich an den Tischrand.
»Bitte?« sagte sie. »Was haben Sie da gesagt?«
Caroline wiederholte es: Phoebe, nicht tot, doch weggegeben. All die Jahre. Phoebe, in einer anderen Stadt aufgewachsen. In Sicherheit, wie Caroline immer wieder betonte. In Sicherheit, umsorgt, geliebt. Phoebe, ihre Tochter, Pauls Zwillingsschwester. Mit Downsyndrom geboren, weggegeben. David hatte sie weggegeben.
»Sie müssen verrückt sein«, sagte Norah, obwohl in diesem Moment viele einzelne Puzzleteile ihres Lebens an die richtige Stelle rückten, so daß sie wußte, daß Caroline die Wahrheit sprach.
Caroline griff in ihre Handtasche und schob zwei Polaroids über den lackierten Ahorntisch. Norah zitterte so stark, daß sie sie nicht an sich nehmen konnte, aber sie beugte sich darüber, um sie zu betrachten: ein kleines, dickliches Mädchen in einem weißen Kleid mit einem Lachen, das ihr Gesicht erstrahlen ließ, die Mandelaugen vor Freude geschlossen. Und dann ein weiteres Bild, dasselbe Mädchen Jahre später, im Begriff, auf einen Basketballkorb zu werfen, in dem Augenblick kurz vor dem Absprung festgehalten. Auf dem einen sah sie ein wenig aus wie Paul, auf dem anderen ein wenig wie Norah, doch im Grunde war sie einfach nur sie selbst. Phoebe. Kein Bild in Davids so sorgfältig verstauten |483| Ordnern, sondern einfach nur sie selbst. Am Leben irgendwo auf der Welt.
»Aber warum?« Der Schmerz in ihrer Stimme war deutlich zu hören. »Warum hätte er das tun sollen? Warum hätten Sie das tun sollen?«
Caroline schüttelte den Kopf und sah hinaus in den wilden, chaotischen Garten.
»Jahrelang habe ich geglaubt, daß ich unschuldig bin«, sagte sie. »Ich glaubte, daß ich das Richtige getan hätte. Das Heim ist ein furchtbarer Ort. David hatte es nicht gesehen, er wußte nicht, wie schlimm es ist. Und so habe ich Phoebe an mich genommen, habe sie großgezogen und habe viele, viele Kämpfe ausgetragen, um ihr eine Ausbildung und eine medizinische Betreuung zu ermöglichen. Um ihr ein gutes Leben zu garantieren. Es war einfach für mich, mich als Heldin zu sehen. Aber ich glaube, ich habe tief im Innern immer gewußt, daß meine Motive nicht ganz uneigennützig waren. Ich habe mir immer ein Kind gewünscht und hatte keines. Außerdem habe ich David geliebt oder geglaubt, ihn zu lieben. Aus der Distanz betrachtet, meine ich«, fügte sie schnell hinzu. »Es spielte sich alles in meinem Kopf ab. David nahm mich nicht einmal wahr. Doch als ich die Ankündigung fürs Begräbnis sah, wußte ich, daß ich sie zu mir nehmen mußte. Daß ich so oder so würde gehen müssen und sie nicht zurücklassen
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