Die Tochter des Fotografen
nicht länger zurückhalten.
»Wir sind jetzt seit zwei Jahren zusammen. Entweder es entwickelt sich etwas und es gibt Veränderung, oder alles stirbt dahin. Ich möchte ja nur, daß sich weiter etwas entwickelt, das ist alles.«
Michelle seufzte. »Es verändert sich ohnehin alles, ob mit oder ohne dieses Stück Papier. Das ist das, was du nicht siehst. Und was immer du auch sagst – es
ist
eine große Sache. Eine Heirat verändert alles, und es sind immer die Frauen, die Opfer bringen, egal, was die Leute sagen.«
»Das ist blanke Theorie. Im wahren Leben sieht es anders aus.«
|492| »Du bringst einen wirklich auf die Palme, Paul – du weißt scheinbar über alles ganz genau Bescheid.«
Die Sonne stand hoch, färbte den Fluß und füllte den Raum mit einem silbernen Licht, das ein flackerndes Muster an die Decke warf. Michelle ging ins Badezimmer und schloß die Tür. Man hörte sie in den Schubladen kramen, während das Wasser lief. Paul ging dorthin, wo sie gestanden hatte, nahm ihren Blickwinkel ein, als könnte ihm das helfen, sie zu verstehen. Dann klopfte er leise an die Tür.
»Ich gehe jetzt«, sagte er.
Stille. Dann rief sie: »Bist du morgen abend wieder zurück?«
»Dein Konzert ist um sechs, oder?«
»Ja.« In ein weißes, flauschiges Handtuch gehüllt, öffnete sie die Badezimmertür, während sie sich das Gesicht mit einer Lotion einrieb.
»Okay«, sagte er und küßte sie, sog ihren Duft ein, die Zartheit ihrer Haut. »Ich liebe dich«, sagte er, als er zurücktrat.
Sie sah ihn einen Augenblick an. »Ich weiß«, sagte sie. »Wir sehen uns morgen.«
Ich weiß.
Auf dem Weg nach Lexington brütete er über diesen Worten. Die Fahrt dauerte zwei Stunden – über den Ohio hinweg durch den dichten Verkehr nahe beim Flughafen, schließlich die schönen, wogenden Berge hinauf. Schon bald fuhr er durch die ruhigen Straßen der Lexingtoner Innenstadt, an leeren Gebäuden vorbei, und erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als die Main Street noch der Nabel der Welt gewesen war, wo die Leute einkauften, aßen und zusammentrafen. Er dachte daran zurück, wie er in die Drogerie gegangen war und ganz hinten an der Eisquelle gesessen hatte. Schaufeln voller eingefrorener Schokolade in einem Metallbecher, das Surren des Mixers. Sich vermengende Gerüche von gegrilltem Fleisch und Desinfektionsmitteln. Seine Eltern hatten sich in der Innenstadt kennengelernt. |493| Seine Mutter war die Rolltreppe hochgefahren, aus der Menge hervorgetreten, und sein Vater hatte sie wie die Sonne verfolgt.
Er fuhr an dem neuen Bankgebäude vorbei, dem alten Gericht und an dem leeren Platz, wo einst das Theater gestanden hatte. Eine schlanke Frau ging den Bürgersteig entlang, den Kopf gesenkt, die Arme verschränkt, ihr dunkles Haar wehte im Wind. Zum erstenmal seit Jahren dachte Paul an Lauren Lobeglio, ihre stille und entschlossene Art, Woche für Woche durch die leere Garage zu ihm herüberzukommen. Er war darauf eingegangen, wieder und wieder; wie oft war er in dunkelster Nacht aufgewacht und hatte Angst gehabt, mit Lauren all das zu erfahren, was er sich jetzt mit Michelle so wünschte: Hochzeit, Kinder, verwobenes Leben.
Er fuhr weiter und summte sein neuestes Lied vor sich hin. »A Tree in the Heart« hieß es – vielleicht würde er es heute abend in Lynaghs Pub spielen. Michelle wäre schockiert, aber Paul war das egal. In der letzten Zeit, seit sein Vater gestorben war, hatte er sowohl kleinere, zwanglose Auftritte gehabt als auch in Konzertsälen gastiert: Er hatte sich eine Gitarre geschnappt und in Bars oder Restaurants gespielt – klassische, aber auch zunehmend populäre Stücke, die er in der Vergangenheit immer verachtet hatte. Wie es zu diesem Sinneswandel gekommen war, konnte er nicht erklären, aber es hatte etwas mit der Intimität dieser Orte zu tun, mit der Verbundenheit, die er zum Publikum fühlte, das zum Greifen nah war. Michelle gefiel das nicht: Sie glaubte, daß es eine Folge seines Kummers war, und wollte, daß er darüber hinwegkam. Doch Paul wollte es nicht aufgeben. Als er jünger war, hatte er gespielt, weil er hoffte, durch die Musik Harmonie in der Familie zu schaffen. Nun war sein Vater tot; er konnte gegen niemanden mehr anspielen. Und so hatte er diesen neuen Frieden gefunden.
Er fuhr in die alte Nachbarschaft, an den prächtigen Häusern mit ihren weiten Vorgärten vorbei, an den Bürgersteigen |494| und der immerwährenden Ruhe. Die Eingangstür des Hauses seiner Mutter
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