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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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hervorgeholt. Phoebe, die aufrecht neben ihm saß, mit weißer, fast durchsichtiger Haut, nahm ein Kleenex aus einer kleinen Packung in ihrer großen schwarzen Plastikhandtasche und hielt es ihm hin. Gleich unter der Hautoberfläche konnte er blaßblaue Adern ausmachen. Er sah, wie der Puls an ihrem Hals schlug, ruhig und gleichmäßig.
    Seine Schwester. Seine Zwillingsschwester. Was, wenn sie ohne Behinderung auf die Welt gekommen wäre? Was, wenn ihr Vater sie so, wie sie war, nicht Caroline Gill übergeben hätte? Er stellte sich seine Eltern vor, jung und glücklich, wie sie unzertrennlich ins Auto stiegen und langsam – im Tauwetter des März, der auf ihre Geburt folgte – durch die nassen Straßen von Lexington fuhren. Das sonnige Spielzimmer, das sich an seines anschloß, hätte Phoebe gehört. Sie hätte ihn die Treppe hinuntergejagt, durch die Küche in den wilden Garten, ihr Gesicht stets vor seinen Augen, ihr Lachen das Echo seines eigenen. Was für ein Mensch wäre er dann gewesen?
    Aber seine Mutter hatte recht. Er würde die entgangene Vergangenheit nicht nachholen können. Alles, was er hatte, war das Hier und Jetzt. Sein Vater hatte seine eigenen Zwillinge mitten in einem unerwarteten Sturm zur Welt gebracht, Schritt für Schritt die Handgriffe getan, die er auswendig kannte, während er seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Herzschlag der Frau auf dem Operationstisch widmete, der straffen Haut, dem herausragenden Kopf. Atem, Hautfarbe, Finger und Zehen. Ein Junge. Ans Tageslicht befördert, perfekt, und irgendwo im Gehirn seines Vaters war ein leiser Gesang |522| erklungen. Einen Augenblick später das zweite Baby. Und jener Gesang war für immer verstummt.
    Sie näherten sich der Stadt. Paul wartete auf eine Lücke im Verkehr und bog zum Lexingtoner Friedhof ab, fuhr an dem steinernen Pförtnerhäuschen vorbei. Er parkte unter einer Ulme, die hundert Jahre Krankheit und Dürre überlebt hatte, und stieg aus dem Wagen. Als er ihr die Tür öffnete, bot er Phoebe die Hand an. Verwundert sah sie zu ihm auf, dann stieß sie sich eigenhändig aus dem Sitz, die Narzissen, deren Stengel nun aufgeplatzt und klebrig waren, noch immer in der Hand. Eine Weile folgten sie dem Weg, an den Denkmälern und dem Ententeich vorbei, bis er sie über das Gras zum Gedenkstein führte, der das Grab ihres Vaters kennzeichnete.
    Phoebe fuhr mit den Fingern über die Namen und Daten, die in den dunklen Granit eingraviert waren. Wieder fragte er sich, was sie dachte. Al Simpson war der Mann, den sie ihren Vater nannte. Am Abend legte er Puzzles mit ihr, und er brachte ihr ihre Lieblingsalben von seinen Touren mit; er hatte sie auf seinen Schultern getragen, damit sie die hohen Blätter der Ahornbäume berühren konnte. Dieser Name hier, diese Granitplatte konnten ihr nichts bedeuten.
    »David Henry McCallister.« Phoebe las die Namen laut und bedächtig. Sie sammelten sich in ihrem Mund und fielen schwerfällig in die Welt.
    »Unser Vater«, sagte er.
    »Vater unser«, sagte sie, »geheiligt werde Dein Name.«
    »Nein«, sagte er überrascht.
» Unser
Vater. Mein Vater. Deiner.«
    »Unser Vater«, wiederholte sie, und er fühlte eine Woge der Enttäuschung in sich aufsteigen, da ihre Worte wohlmeinend waren, mechanisch daherkamen und keinerlei Bedeutung hatten.
    »Du bist traurig«, fiel ihr dann auf. »Wenn mein Vater sterben würde, wäre ich auch traurig.«
    |523| Paul erschrak. Genau das war es – er war traurig. Sein Ärger war verraucht, und plötzlich sah er seinen Vater in einem anderen Licht. Allein seine Gegenwart mußte seinen Vater mit jedem Blick, mit jedem Atemzug an die Entscheidung erinnert haben, die er nicht rückgängig machen konnte. Die Polaroids, die Caroline über all die Jahre geschickt hatte, die sie, in einer Schublade versteckt, in der Dunkelkammer gefunden hatten, nachdem die Kuratoren gegangen waren; ebenso wie das einzige Bild von der Familie seines Vaters, das sich noch immer in Pauls Besitz befand. Und die tausend anderen, die sein Vater eines nach dem anderen gesammelt hatte, um den Augenblick, den er nie würde ungeschehen machen können, vergessen zu machen. Und doch war die Vergangenheit ans Licht gekommen, machtvoll wie ein Traum.
    Phoebe, seine Schwester, ein für ein Vierteljahrhundert gehütetes Geheimnis. Paul ging ein paar Schritte zurück zum Kiesweg. Mit den Händen in den Hosentaschen hielt er inne, während Blätter mit dem Wind durch die Luft wirbelten und ein Fetzen

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