Die Tochter des Fotografen
bewusst gewesen wäre, hatte die Idee in mir schon Form angenommen. Katherine Anne Porter hat in einem Interview mit »Paris Review« gesagt, das zentrale Ereignis in einer Geschichte sei wie ein Stein, den man ins Wasser wirft – nicht das Ereignis selbst ist das Interessanteste, sondern die Kreise, die es im Leben der Romanfiguren zieht. Das bestätigte sich für mich. Sobald ich das erste Kapitel geschrieben hatte, wollte ich mehr darüber wissen, wer diese Menschen waren und was Davids Entscheidung für ihr Leben bedeutete. Ich |530| konnte nicht mehr aufhören, bevor ich es nicht herausgefunden hatte.
Beweggründe sind etwas sehr Komplexes, auch die Motivation für Davids schicksalsschwere Entscheidung. Haben Sie als Autorin Verständnis für seine Motive?
O ja, sicher. Auch wenn die meisten von uns nicht ganz so dramatische Entscheidungen zu treffen haben, kennen wir doch Situationen, in denen wir folgenschwer auf ein Ereignis reagieren und unsere Motive dafür, wenn überhaupt, erst viel später ganz verstehen.
Ich wusste von Anfang an, dass David kein schlechter Mensch ist. Er trifft in diesem ersten Kapitel absolut die falsche Entscheidung, aber er glaubt, in bester Absicht zu handeln – in der Absicht, Norah zu helfen und für sein Kind das zu tun, was die medizinische Fachwelt damals für ein Kind mit Downsyndrom für das Beste hielt.
Natürlich steht aber noch viel mehr dahinter. David hat sich seiner eigenen Trauer um den Verlust seiner Schwester nie gestellt, hat diesen Verlust nie verarbeitet. Ich glaube, das war damals nicht ungewöhnlich. Schließlich ist das Konzept der Trauerarbeit ziemlich neu. Ich erinnere mich aus meiner Jugend an Geschichten von Erwachsenen in meiner Umgebung, die schreckliche Verluste erlitten hatten. Sie waren immer von einer Art Schweigen umgeben. Jeder kannte ihre Geschichte, und der Verlust hatte sich in ihren Lebensweg eingeschrieben, aber niemand sprach über die Toten.
So ist es auch mit David. Mit dem Verlust seiner Schwester und letztlich auch seiner Familie versucht er fertig zu werden, indem er einfach weitermacht, sein Leben in die Hand nimmt und nach beruflichem Erfolg strebt. Dabei bleibt seine Trauer aber unterhalb der Oberfläche lebendig, und als Phoebe geboren wird, ein Ereignis, das er weder vorhersehen noch kontrollieren kann, steigt sie wieder in ihm auf. David reagiert in |531| dem Moment nicht nur auf die gegenwärtige Situation, sondern auch auf seine eigene Vergangenheit, aber er braucht Jahrzehnte und eine Reise zurück an den Ort seiner Kindheit, um das herauszufinden.
Der Roman beginnt 1964. Glauben Sie, dass sich unsere Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen seither geändert haben? Sind wir jetzt besser informiert und toleranter?
Ja, vieles ist in den vergangenen Jahrzehnten besser geworden, aber ich würde auch sagen, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, dass noch viele Fortschritte gemacht werden müssen.
Ich selbst habe beim Schreiben dieses Romans ganz sicher einen Lernprozess durchlaufen. Als ich anfing, wusste ich nicht, wie ich mir Phoebe vorstellen sollte. Ich war fasziniert von dem Geheimnis und seinen Konsequenzen für die Familie, aber ich wusste nicht viel über das Downsyndrom. Die Aufgabe, eine überzeugende Figur zu erschaffen, die einfach sie selbst ist und kein Klischee, und dabei weder sentimental noch herablassend zu sein, erschien mir sehr schwierig, fast entmutigend.
Ich begann viel zu lesen und zu recherchieren; nach und nach führte ich auch Gespräche mit Betroffenen. Das erste Paar, mit dem ich sprach, hat eine Tochter, die in den 60er Jahren heranwuchs. Die Eltern waren unglaublich hilfreich, so offen und direkt und klug. Als ich ihnen das erste Kapitel zeigte, fanden sie sofort, dass ich den Arzt exakt getroffen hätte. Davids Einstellung zum Downsyndrom kommt uns heute vielleicht empörend vor, aber es ist gar nicht so lange her, dass seine Ansichten weit verbreitet waren.
Diese Ansichten haben sich nur deshalb geändert, weil Eltern von Kindern mit Downsyndrom sich geweigert haben, die Einschränkungen zu akzeptieren, die ihren Kindern aufgezwungen wurden – genauso wie Caroline in diesem Roman. |532| Der Kampf, den Caroline ausficht, steht stellvertretend für viele Versuche damals, die vorherrschenden Ansichten zu verändern und lange verriegelte Türen aufzubrechen.
Diese Veränderungen waren nie leicht herbeizuführen. Damals wie heute zahlten die Menschen, die ihren Kindern
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