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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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sein.«
    Als alle realisiert hatten, wie diese Worte auf Norah wirken mußten, trat ein betretenes Schweigen ein. Norah schien es, als wenn die Stille von ihrem Inneren ausging und sich im Raum ausbreitete. Sally war inzwischen schamesrot geworden.
    »Entschuldige, Norah. Es tut mir leid.«
    Norah wollte darauf etwas erwidern, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Die richtigen Worte lagen ihr schon auf der Zunge, aber die Stimme versagte ihr. Sie setzte sich still hin, und die Stille wurde zu einem Ozean, in dem sie alle ertrinken mochten.
    »Nun gut«, sagte Ruth schließlich forsch. »Norah, liebes Kind, du mußt sehr erschöpft sein.« Sie zog ein sperriges, leuchtend buntes Paket hervor, das mit einem Büschel schmaler, dichtgelockter Bänder verziert war. »Wir haben zusammengelegt, weil wir dachten, du hast sowieso schon alle Saugeraufsätze, die man sich als Frau nur wünschen kann.«
    Die Frauen lachten erleichtert. Auch Norah lächelte, zerriß das Papier und öffnete die Schachtel. Sie enthielt einen »jumper chair«, der von der gleichen Machart war wie der, den sie bei einer Bekannten einst bewundert hatte: mit einem Sitz aus Stoff in einem Metallrahmen, der vom Türstock gehängt wurde, damit das Kind sicher auf und ab hüpfen konnte.
    »Natürlich kann er ihn in den ersten Monaten noch nicht benutzen«, erklärte Sally. »Trotzdem, wenn er erst einmal im Krabbelalter ist, gibt es nichts Besseres!«
    |66| »Und dann haben wir noch das hier«, sagte Flora Simpson im Aufstehen und übergab ihr zwei weiche Pakete.
    Flora war älter als die anderen, sogar älter als Ruth, aber sie war aktiv und drahtig. Für jedes neue Baby in der Gemeinde strickte sie ein Deckchen. Da sie so sicher gewesen war, daß Norah Zwillinge bekommen würde, hatte sie während ihrer abendlichen Sitzungen und den Kaffeestunden in der Gemeinde zwei zueinander passende Deckchen gestrickt. Sie hatte pastellfarbene Gelb- und Grüntöne und zartes Blau mit Rosa vermischt, weil sie nicht darauf wetten wollte, ob es Jungen oder Mädchen oder beides würden, wie sie scherzhaft sagte. Aber in einem war sie sich sicher gewesen, nämlich daß es Zwillinge würden. Zu diesem Zeitpunkt hatte keiner sie ernst genommen.
    Norah nahm die beiden Päckcken und mußte die Tränen zurückhalten. Die weiche Wolle fiel bis auf ihren Schoß hinunter, als sie das erste öffnete, und ihre tote Tochter war ganz nah. Norah empfand eine tiefe Dankbarkeit für Flora, die mit der Weisheit der Großmütter genau das Richtige getan hatte. In sehnlicher Erwartung der anderen Decke, die genauso bunt und weich sein würde wie die erste, riß sie das zweite Päckchen auf.
    »Es ist ein bißchen groß geworden«, entschuldigte sich Flora, als der Strampler ihr auf die Knie fiel. »Aber andererseits wachsen sie in diesem Alter sehr schnell.«
    »Wo ist die andere Decke?« fragte Norah nachdrücklich. Ihre Stimme war schrill, wie der Schrei eines Vogels, und ihr Klang erstaunte sie – ihr Leben lang hatte sie als ruhig, ausgeglichen und zurückhaltend gegolten, und sie war stolz darauf gewesen. »Wo ist die Decke, die du für meine Tochter gemacht hast?«
    Flora errötete und sah hilfesuchend in die Runde. Ruth nahm Norahs Hand und drückte sie fest, so daß Norah ihre glatte Haut und die überraschende Kraft ihrer Finger spürte. David hatte ihr einmal die Namen dieser Knochen genannt, |67| aber sie fielen ihr nicht mehr ein, und noch schlimmer als das war, daß sie weinte.
    »Aber, aber. Du hast doch einen wunderhübschen Sohn«, versuchte Ruth sie zu trösten.
    »Er hatte eine Schwester«, flüsterte Norah bestimmt und sah jedem einzelnen fest ins Gesicht. Sie waren mit guten Absichten gekommen. Jetzt waren sie traurig, und mit jeder Minute wurde es für sie unerträglicher. Was geschah bloß mit ihr? Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer versucht, alles richtig zu machen und allen gerecht zu werden. »Ihr Name war Phoebe, und ich möchte, daß jemand ihren Namen ausspricht. Versteht ihr?« Sie stand auf. »Ich will, daß jemand sich an ihren Namen erinnert.«
    Danach spürte sie, wie viele Hände ihr dabei halfen, sich auf die Couch zu legen, und ihr ein kühler Stoff auf die Stirn gedrückt wurde. Sie redeten ihr zu, die Augen zu schließen, und Norah befolgte ihre Anweisungen. Noch immer quollen Tränen zwischen ihren Lidern hervor, und sie fühlte sich außerstande, sie aufzuhalten. Man unterhielt sich wieder, die Stimmen wirbelten umher wie Schneeflocken im

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