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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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»Ich glaube, Beschäftigung tut ihm im Moment gut.«
    »Meinst du wirklich? Und was ist mit dir?« hakte Bree nach und biß in ihr Brot.
    »Mir geht es gut. Keine Sorge.«
    Bree winkte mit der freien Hand ab. »Meinst du nicht –«, begann sie, aber Norah unterbrach sie, bevor sie David wieder kritisieren konnte.
    »Es ist so schön, daß du hier bist«, warf sie dazwischen. »Ich habe sonst niemanden, der mit mir redet.«
    »Das ist absurd, das ganze Haus war voll mit Leuten, die mit dir sprechen wollten.«
    »Bree, ich hatte Zwillinge«, sagte Norah leise, und ihr Traum, ihre besessene Suche in einer leeren, gefrorenen Landschaft, stand ihr wieder vor Augen. »Es gibt keinen, der über mein kleines Mädchen sprechen würde. Sie geben mir alle zu verstehen, daß ich zufrieden sein sollte, Paul zu haben. Als ob ein |61| Leben ein anderes aufwiegen könnte. Aber ich hatte Zwillinge. Ich hatte auch eine Tochter.«
    Sie konnte nicht weitersprechen, weil ihre Kehle plötzlich wie zugeschnürt war.
    »Alle sind traurig darüber«, versuchte Bree sie sanft zu trösten. »Auf der einen Seite freuen sie sich mit dir, auf der anderen Seite tut es ihnen unglaublich leid. Sie wissen einfach nicht, was sie sagen sollen. Das ist alles.«
    Norah hob den schlafenden Paul an ihre Schulter. Sein Atem strich warm über ihren Nacken. Sie rubbelte ihm über den Rücken, der kaum größer als ihre Handfläche war.
    »Ich weiß«, erwiderte sie. »Trotzdem.«
    »David hätte nicht so früh wieder anfangen sollen zu arbeiten«, kritisierte Bree. »Es ist erst drei Tage her.«
    »Er findet Trost im Arbeiten«, nahm ihn Norah in Schutz. »Wenn ich eine Stelle hätte, würde ich auch arbeiten gehen.«
    »Nein«, Bree schüttelte den Kopf. »Das würdest du nicht. Du weißt, wie ungern ich das sage, aber David schottet sich einfach ab, er verschließt sich vor jeglichem Gefühl. Und du versuchst immer noch, die Leere zu füllen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Aber das kannst du nicht.«
    Norah, die ihre Schwester genau beobachtete, überlegte, welche Gefühle der Apotheker wohl zurückgehalten haben mochte; weil Bree, so offen sie sonst war, nie über ihre kurze Ehe gesprochen hatte. Obwohl Norah geneigt war, ihr zuzustimmen, fühlte sie sich verpflichtet, David zu verteidigen, weil er sich, ungeachtet seiner eigenen Trauer, um alles gekümmert hatte. Er hatte ein stilles, unbegleitetes Begräbnis organisiert, die Freunde über alles unterrichtet und die häßlichen Indizien der Trauer rasch aufgeräumt.
    »Er muß das auf seine Art bewältigen«, sagte sie, während sie die Rollos öffnete.
    Der Himmel hatte sich in ein strahlendes Blau verwandelt, und die Knospen schienen selbst in diesen wenigen Stunden dicker geworden zu sein. »Ich wünschte nur, ich hätte sie |62| gesehen, Bree. Die Leute halten das für makaber, aber ich wünschte es mir. Ich wünschte, ich hätte sie nur ein einziges Mal berühren können.«
    »Das ist gar nicht makaber«, erwiderte Bree sanft. »Ich finde diesen Wunsch ganz nachvollziehbar.«
    Danach trat Stille ein. Erst nach einer Weile, als Bree Norah zaghaft und ungeschickt die letzte Butterbrotscheibe anbot, wurde wieder gesprochen.
    »Ich bin gar nicht hungrig«, log Norah.
    »Du mußt etwas essen«, insistierte Bree. »Du wirst sowieso abnehmen. Das ist einer der großen verschwiegenen Vorteile beim Stillen.«
    »Verschwiegen kann man nicht sagen«, scherzte Norah. »Du singst die ganze Zeit Lobeshymnen auf das Stillen.«
    Bree lachte. »Da hast du wahrscheinlich recht.«
    »Aber jetzt mal im Ernst«, sagte Norah und angelte sich das Wasserglas. »Ich bin wirklich sehr froh, daß du da bist.«
    »Hey, wo sollte ich sonst sein?« murmelte ihre Schwester etwas verlegen.
    Norah spürte das warme Gewicht von Pauls Kopf und sein weiches, dickes Haar. Ob er wohl seine Zwillingsschwester vermißte, die doch eine enge Begleiterin in seinem kurzen Leben gewesen war, bevor sie verschwand? Ob er immer das Gefühl haben würde, etwas verloren zu haben? Sie streichelte seinen Kopf und sah aus dem Fenster. Hinter den Bäumen erhaschte sie einen Blick auf die ferne, nur noch schwach zu sehende Mondsichel.
    Später, während Paul schlief, nutzte Norah die Zeit, um sich zu duschen. Sie probierte drei verschiedene Outfits an, die sie alle verwarf; die Röcke schnitten ihr in die Taille, und die Hosen spannten über den Hüften. Sie war immer schlank, zierlich und gut proportioniert gewesen, weshalb die Plumpheit

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