Die Tochter des Fotografen
einen Elefanten«, sagte er. »Aber ich glaube, das ist verständlich.«
Kalt. Herablassend. Gönnerhaft. Paul schrie lauter. Norah war so wütend, daß sie herumfuhr und die Treppe hinaufstürmte. Oben angekommen, nahm sie Paul hoch und wechselte seine Windeln. »Sanft, ganz sanft«, ermahnte sie sich, obwohl sie die ganze Zeit vor Zorn bebte. Dann fiel sie in den Schaukelstuhl, fingerte die Knöpfe auf und wartete auf die Erlösung. Sie schloß die Augen. Unten wanderte David durch die Räume. Er hatte ihre Tochter wenigstens berührt und ihr Gesicht gesehen. Sie wollte diesen Trauergottesdienst, komme, was da wolle. Das war sie sich schuldig.
Während die Sonne unterging und sie stillte, kam sie ganz langsam zur Ruhe. Wieder wurde sie zu dem weiten, ruhigen Fluß, der alles Leben in sich vereinte. Draußen wuchs das Gras langsam und unbemerkt, die Eiersäcke der Spinnen platzten auf, und die Vögel schwangen sich in die Luft. »Das ist heilig«, ging es ihr durch den Kopf, und sie fühlte sich durch das Kind in ihren Armen und das Kind in der Erde mit allem verbunden, das lebte oder je gelebt hatte. Es dauerte lange, bis sie die Augen öffnete, und als sie sich endlich umsah, staunte sie über die Dunkelheit und die Schönheit, die von allen Dingen um sie herum ausging: dem kleinen rechteckigen Lichtfleck, den der gläserne Türknauf zitternd an die Wand warf; Pauls wunderschön gestrickter neuer Decke, die auf der Wiege lag; und auf der Anrichte von Davids Osterglocken, die zart wie Haut waren und das Licht der Eingangshalle auffingen.
|73| 4. Kapitel
März 1964
A LS IHRE STIMME AUF DEM LEEREN PARKPLATZ verklungen war, schlug Caroline die Autotür zu und suchte sich vorsichtig einen Weg durch den Schneematsch. Doch schon nach ein paar Schritten machte sie kehrt, um das Baby zu holen. In der Dunkelheit wurden Phoebes dünne Klagelaute schriller und trieben Caroline über den Asphalt und die leeren quadratischen Lichtflecken zu den automatischen Türen des Lebensmittelgeschäfts. Sie waren verschlossen. Caroline rief und hämmerte dagegen, und ihre Stimme verschmolz mit Phoebes Schreien. Drinnen waren die hell erleuchteten Gänge leer, nur in einem stand ein verlassener Wischeimer. Atemlos blieb Caroline einige Minuten lang still stehen und lauschte auf Phoebes Schreien und das ferne Rauschen der Bäume. Dann riß sie sich zusammen und ging zur Rückseite des Geschäftes. Obwohl das Metallrolltor der Ladeplattform verschlossen war, stieg sie hinauf. Dort, wo der Schnee geschmolzen war, stieg der Fäulnisgeruch verrotteter Lebensmittel von dem kalten Beton auf. Sie versetzte dem Tor einen harten Tritt, und das donnernde Echo tat ihr so gut, daß sie noch mehrmals dagegentrat, bis sie völlig außer Atem war.
»Wenn sie noch hier sind, was ich bezweifle, werden sie jetzt wohl nicht mehr öffnen.«
Die Stimme eines Mannes. Caroline drehte sich um und sah ihn unter sich auf einer rampenähnlichen Anhöhe stehen, die dazu diente, Lastwagen rückwärts an die Ladezone heranzumanövrieren. Selbst aus der Entfernung konnte sie sehen, daß der Mann riesig war. Er trug einen ausgebeulten |74| Mantel und eine Strickmütze. Seine Hände steckten in den Taschen.
»Mein Baby weint«, erklärte sie unnötigerweise. »Und meine Autobatterie ist leer. Gleich hinter der Eingangstür gibt es ein Telefon, aber ich komme nicht hinein.«
»Wie alt ist Ihr Baby?« fragte der Mann.
»Es ist ein Neugeborenes«, erwiderte Caroline panisch, ohne nachzudenken. Sie war den Tränen nahe. Gleichzeitig kam sie sich lächerlich vor, da sie dem Klischee »hilflose junge Frau in Not« entsprach, das sie schon immer gehaßt hatte.
»Es ist Samstagabend«, bemerkte der Mann, und seine Stimme wehte über das Schneefeld, das zwischen ihnen lag. Auf der Straße hinter dem Parkplatz regte sich nichts. »Wahr scheinlich sind schon alle Autowerkstätten geschlossen.«
Caroline antwortete nicht.
»Ich mach’ Ihnen einen Vorschlag, Lady«, begann er langsam, und die Festigkeit seiner Stimme gab Caroline Halt. Sie merkte, daß er absichtlich ruhig sprach, damit sie sich entspannte, daß er vielleicht sogar dachte, sie sei verrückt. »Ich habe meine Überbrückungskabel letzte Woche bei einem Kollegen vergessen, deshalb kann ich Ihnen mit dem Auto nicht weiterhelfen. Aber es ist verdammt kalt hier draußen. Also, warum kommen Sie nicht mit in meinen Truck? Dort ist es warm. Vor ein paar Stunden habe ich hier eine Ladung Milch abgeliefert und
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