Die Tochter des Fotografen
immer als ihre Pflicht angesehen, ein gutes Mädchen zu sein. Ihrem Vater, einem umgänglichen, chaotischen Mann, der ein Experte für Schafzucht war, fühlte sie sich eng verbunden. Er hatte seine Tage damit verbracht, in der stets verschlossenen Dachkammer Journale zu lesen, oder war in der Forschungsstation gewesen, wo er oft inmitten der Schafe mit ihren seltsam schrägen gelben Augen stand. Norah liebte ihn und hatte ihr Leben lang geglaubt, sie müsse seine Gedankenlosigkeit gegenüber seiner Familie und die Enttäuschung ihrer Mutter, einen Mann geheiratet zu haben, der ihr fremd war, ausgleichen. Als er starb, fühlte sie sich nur noch mehr dazu verpflichtet, alles wiedergutzumachen und die Welt in Ordnung zu bringen. So absolvierte sie still ihre schulische Laufbahn und tat auch weiterhin, was von ihr erwartet wurde.
Nach dem Abschluß der Highschool hatte sie sechs Monate lang in einer Telefonfirma gearbeitet. Aber sie hatte keinen Gefallen daran gefunden und die Arbeit leichten Herzens aufgegeben, als sie David heiratete. Ihre Begegnung mit David in der Wäscheabteilung von Wolf Wile, ihre stürmische Romanze und die Hochzeitsfeier, die sie in kleinem Kreis begangen hatten, gehörten zu dem Verrücktesten, was sie jemals erlebt hatte.
Norahs Leben war, wie Bree gerne sagte, wie eine Fernsehkomödie. »Für dich ist das prima«, erklärte Bree, und die breiten Silberreifen, die sie bis zu den Ellbogen geschichtet hatte, klirrten, als sie ihr langes Haar zurückwarf. »Aber ich |59| würde verrückt werden. Ich könnte so ein Leben keine Woche – ach, nicht mal einen Tag aushalten.«
Norah schwelte vor Zorn, verachtete und beneidete Bree und biß sich auf die Zunge; Bree belegte Seminare über Virginia Woolf, zog mit dem Manager eines Restaurants in Louisville zusammen, das auf Reformkost spezialisiert war, und kam nicht mehr vorbei. Mit dem Beginn ihrer Schwangerschaft jedoch veränderte sich alles. Bree besuchte sie wieder und brachte ihr gestrickte Babyschnürschuhe und winzige silberne Fußkettchen mit, die aus Indien stammten und die sie in einem Laden in San Francisco gefunden hatte. Als sie hörte, daß Norah auf Fläschchennahrung verzichten wollte, brachte sie Kopien mit, die sie auf einem Mimeographen hatte machen lassen und die Ratschläge zum Stillen enthielten. Norah freute sich über Brees Besuche, über die süßen, unpraktischen Geschenke und war dankbar für ihre Unterstützung: 1964 war man radikal, wenn man stillte, und so war es schwer, Informationen darüber zu finden. Ihre Mutter weigerte sich, mit ihr darüber zu reden; die Frauen in ihrem Nähzirkel hatten ihr geraten, zum Stillen einen Stuhl im Badezimmer aufzustellen, um ihre Intimsphäre zu schützen. Über diesen Vorschlag hatte Bree zu ihrer Erleichterung nur laut gespottet. »Was für ein Haufen prüder alter Jungfern«, sagte sie verächtlich. »Gib nichts auf ihr Geschwätz.«
Obwohl Norah für ihre Unterstützung dankbar war, fühlte sie sich in Brees Gegenwart zuweilen auch unbehaglich. In Brees Welt, die in Kalifornien, Paris oder New York, jedenfalls woanders, zu Hause zu sein schien, liefen junge Frauen
oben ohne
um ihre Häuser, fotografierten sich mit ihren Babys an den riesigen Brüsten und schrieben Kolumnen, die den besonderen Nährwert von Muttermilch gegenüber Flaschennahrung hervorhoben. »Stillen ist ganz natürlich, es liegt in unserer Natur als Säugetiere«, erklärte Bree. Aber allein die Vorstellung, daß man ein von Instinkten geleitetes |60| Tier sein sollte, das durch den Begriff »Säugen« definiert wurde (was nah an Brunften lag, dachte sie und reduzierte so etwas Wunderbares auf das Animalische), trieb Norah die Röte ins Gesicht und war schuld daran, daß sie am liebsten das Zimmer verlassen hätte.
Jetzt kam Bree mit einem Tablett zurück, auf dem Kaffee, frisches Brot und Butter angerichtet waren. Ihr langes Haar fiel ihr von den Schultern, als sie sich zu Norah beugte, um ein großes Glas Eiswasser auf den Tisch neben ihr zu stellen. Sie setzte das Tablett auf dem Teetisch ab und lümmelte sich auf die Couch, die weißen, langen Beine untergeschlagen.
»David ist weg?«
Norah nickte. »Ich bin nicht einmal aufgewacht, als er aufgestanden ist.«
»Glaubst du, es tut ihm gut, so viel zu arbeiten?«
»Ja«, sagte Norah bestimmt. »Das glaube ich.« Dr. Bentley hatte mit den anderen Ärzten in der Praxis gesprochen, und sie hatten David angeboten, sich freizunehmen. Aber er hatte abgelehnt.
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