Die Tochter des Fotografen
Wind. Man fragte sich, was zu tun sei. Jemand erklärte, daß das nicht ungewöhnlich wäre. Selbst wenn die Geburt sehr gut verlaufen war, kam es oft vor, daß man ein paar Tage danach in ein plötzliches Tief stürzte. »Wir sollten David rufen«, schlug eine andere Stimme vor. Aber dann kam Bree und geleitete sie alle ruhig und liebenswürdig zur Tür. Als sie gegangen waren, öffnete Norah die Augen und sah, daß Bree eine ihrer Schürzen trug. Das Band mit der Zickzackverzierung war nur lose um ihre schlanke Hüfte geschlungen. Flora Simpsons Decke lag auf dem Boden, inmitten von Einwickelpapier. Norah hob sie auf und vergrub ihre Finger in der weichen Wolle. Dann wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und begann zu sprechen.
»David sagte, sie hatte dunkles Haar wie er.«
Bree sah sie durchdringend an. »Norah, du hast gesagt, daß du einen Trauergottesdienst haben möchtest. Worauf wartest |68| du? Mach dich an die Arbeit, und bereite alles vor! Vielleicht hilft dir das.«
Norah schüttelte den Kopf. »Es stimmt schon, was David und all die anderen sagen. Ich sollte mich auf das Baby konzentrieren, das ich habe.«
Bree zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, daß du das nicht tun wirst. Je mehr du versuchst, nicht an sie zu denken, desto mehr wirst du an sie denken müssen. David ist auch nur ein Mensch. Er ist nicht allwissend.«
»Das weiß ich doch.«
»Manchmal bin ich nicht sicher, ob du das wirklich weißt.«
Norah antwortete nicht darauf. Auf dem polierten Boden spielten Licht und Schatten miteinander, und die Blätter fraßen dunkle Löcher in das Licht. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte leise. Sie sollte eigentlich ärgerlich sein, dachte sie, aber sie war es nicht.
Von dem Moment an, da sie auf den Stufen der Klinik gestanden hatte, bis zum jetzigen Zeitpunkt war sie immer kraft- und willenloser geworden. Die Idee, einen Trauergottesdienst abzuhalten, schien diesen Prozeß aufgehalten zu haben.
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht sollte ich es wirklich tun; nichts Großes, etwas Stilles.«
Bree reichte ihr das Telefon. »Hier. Fang einfach an, Fragen zu stellen.«
Norah atmete tief ein und rief an; zuerst den neuen Pfarrer. Bald hörte sie sich sagen, daß sie einen Gottesdienst wolle, ja, richtig, er solle draußen stattfinden. Ja, bei Regen oder Sonnenschein. »Für Phoebe, meine Tochter, die bei der Geburt gestorben ist.« In den folgenden zwei Stunden wiederholte sie diese Worte wieder und wieder: beim Telefonieren mit dem Blumenhändler, gegenüber den lokalen Dienstleistern, bei ihren Freundinnen aus dem Nähkreis, die sich damit einverstanden erklärten, für den Blumenschmuck zu sorgen. Mit jedem Anruf wurde sie ruhiger, und die Worte |69| brachten sie wieder zurück in die Welt. Allmählich löste sich etwas in ihr, wie wenn sie Paul zum Stillen anlegte.
Bree fuhr an die Uni, um ein Seminar zu besuchen, und Norah ging durch das stille Haus und begann das gesamte Ausmaß des Chaos um sie herum zu sichten. Jeden Tag hatte sie diese Unordnung gesehen, ohne sich darum zu kümmern, jetzt aber war ihre Teilnahmslosigkeit einer neuen Energie gewichen. Sie zog die Bettlaken straff, öffnete die Fenster und wischte Staub. Dann zog sie sich ihr Umstandskleid über den Kopf und durchsuchte ihren Kleiderschrank nach einem passenden Rock und einer Bluse, die ihren Busen nicht einschnürte. Ihr Spiegelbild blickte ihr stirnrunzelnd entgegen. Obwohl sie noch immer plump und massig wirkte, fühlte sie sich schon besser. Danach nahm sie sich die Zeit, ihre Frisur mit einhundert Bürstenstrichen in Form zu bringen. Als sie damit fertig war, war ihre Bürste voller Haare, ein dickes Nest aus goldenem Flaum. Die Fülle, in der ihre Haare während der Schwangerschaft geglänzt hatten, war verschwunden, weil sich ihr Hormonspiegel wieder an sein ursprüngliches Niveau anpaßte. Obwohl sie damit gerechnet hatte, war ihr zum Heulen zumute.
»Jetzt ist es aber genug«, ermahnte sie sich streng, während sie Lippenstift auftrug und die Tränen trocknete. »Schluß mit der Heulerei, Norah Asher Henry.«
Bevor sie die Treppe hinunterging, hatte sie einen Pulli und ihre flachen beigen Schuhe angezogen. Zumindest ihre Füße waren wieder schlank.
Dann sah sie nach Paul – er schlief noch immer, und sein Atem war sacht, aber deutlich spürbar –, setzte einen gefrorenen Auflauf in den Ofen, deckte den Tisch und öffnete eine Flasche Wein. Als die
Weitere Kostenlose Bücher