Die Tochter des Fotografen
ihres Körpers sie befremdete und deprimierte. Schließlich entschied sie sich für ein altes Umstandskleid aus Jeansstoff, das erfreulich weit war, obwohl sie sich geschworen |63| hatte, es nie wieder anzuziehen. Mit bloßen Füßen wanderte sie von einem Raum zum anderen. Die Zimmer befanden sich in einem ähnlichen Zustand wie ihr Körper: Sie quollen über, waren chaotisch und außer Kontrolle geraten. Überall sammelten sich Staubflocken, lagen Kleidungsstücke verstreut, und die Überdecken waren von den ungemachten Betten auf den Boden gerutscht. Auf der Anrichte hatte die Vase mit den Osterglocken, als David sie dort hinstellte, eine Bahn in den Staub gezogen. Die Blumen waren an den Blütenrändern braun geworden, und selbst die Fenster hatten einen grauen Film. Noch ein Tag, dann würde Bree sie verlassen, und ihre Mutter würde eintreffen. Als sie daran dachte, setzte sich Norah hilflos auf die Bettkante, wobei eine von Davids Krawatten schlaff von ihrer Hand baumelte. Die Unordnung, in der sich das Haus befand, lastete auf ihr, und ihr war, als sei selbst das Sonnenlicht schwer geworden. Sie war zu kraftlos, um dagegen anzukommen, und was schlimmer und beängstigender war: Es war ihr egal.
Es klingelte, und Brees energische Schritte hallten durch die Räume bis zur Haustür.
Norah erkannte die Stimmen sofort. Einen Augenblick lang rührte sie sich nicht von der Stelle und überlegte statt dessen, wie sie Bree dazu bewegen könnte, die Leute wegzuschicken. Aber die Stimmen waren schon deutlicher. Sie konnte sie bereits am Fuß der Teppe ausmachen, bevor sie wieder schwächer wurden, weil die Besucher das Wohnzimmer betreten hatten: Es waren Mitglieder des Abendkreises ihrer Kirchengemeinde, die unbedingt einen Blick auf das Neugeborene werfen wollten und Geschenke mitgebracht hatten. Zwei andere Gesellschaften, ihr Nähkreis und die Bekannten aus ihrem Porzellanmalkurs, waren schon dagewesen. Sie hatten Paul wie eine Trophäe von Hand zu Hand gereicht und den Kühlschrank mit Lebensmitteln gefüllt. Auch Norah hatte diese Besuche bei frischgebackenen Müttern schon oft mitgemacht. Nun war sie darüber schockiert, daß sie, anstatt dankbar |64| zu sein, alles an diesem Ritual lästig fand: die Störung, die Pflicht, Dankeskarten zu schreiben, und selbst das Essen, das ihr im Moment völlig gleichgültig war.
Bree rief nach ihr. Norah kam herunter, ohne sich darum zu scheren, wie sie aussah. Sie trug keinen Lippenstift auf und bürstete sich nicht einmal die Haare. Außerdem war sie noch immer barfuß.
»Ich sehe entsetzlich aus«, verkündete sie beim Eintreten ins Wohnzimmer aufsässig.
»Aber nein«, sagte Ruth Startling abwehrend und klopfte neben sich, damit sie sich auf das Sofa setzte. Aber Norah bemerkte mit seltsamer Genugtuung, daß die anderen bei ihrer Bemerkung vielsagende Blicke austauschten.
Fügsam nahm sie Platz, indem sie wie zu Schulzeiten die Beine an den Fußgelenken verschränkte und die Hände auf ihrem Schoß faltete.
»Paul ist gerade eingeschlafen«, erklärte sie störrisch. »Ich werde ihn jetzt nicht aufwecken.«
»Das verstehe ich«, versuchte Ruth sie zu beschwichtigten. Sie war fast siebzig und hatte sorgfältig frisiertes weißes Haar. Ihr fünfzigjähriger Mann war letztes Jahr gestorben. Was hatte es sie damals gekostet und was mußte sie heute wohl dafür aufwenden, um ihr gepflegtes Erscheinungsbild und ihr gutgelauntes Auftreten aufrechtzuerhalten? überlegte Norah. »Du hast so viel durchgemacht«, sagte Ruth.
Wieder spürte Norah die Anwesenheit ihrer Tochter. Sie war kurz davor, vor ihrem geistigen Auge zu erscheinen, und Norah kämpfte den Drang nieder, die Treppe hochzurennen und nach Paul zu sehen. Ich werde langsam verrückt, dachte sie und starrte auf den Boden.
»Wie wäre es mit etwas Tee?« fragte Bree mit aufgesetzter Fröhlichkeit und verschwand, bevor jemand antworten konnte, in der Küche.
Norah gab ihr Bestes, um dem Gespräch zu folgen. Man diskutierte darüber, ob Kopfkissen im Krankenhaus aus Baumwolle |65| oder Batist sein sollten, tauschte sich über den neuen Pastor aus und besprach, ob man der Heilsarmee Decken schenken sollte. Dann verkündete Sally, daß das Baby von Kay Marshall, ein Mädchen, letzte Nacht zur Welt gekommen sei.
»Das Baby wog 3200 Gramm«, erklärte sie. »Kay sieht gut aus, und das kleine Mädchen ist wunderschön. Sie haben sie Elisabeth, nach ihrer Großmutter, genannt. Es soll eine leichte Geburt gewesen
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