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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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war blaß, aber entschlossen. »Nein«, sagte er. »Jetzt ist es zu spät. Tun Sie, was Sie tun müssen, Caroline, aber ich kann und werde es ihr nicht sagen.«
    |89| Es war seltsam, sie haßte ihn für diese Worte, aber gleichzeitig war sie ihm in diesem Moment näher als je einem anderen Menschen zuvor. Etwas Ungeheuerliches verband sie beide von nun an, und was auch immer geschehen würde, sie würden miteinander verbunden bleiben. Als er ihre Hand nahm, fühlte sich das ganz normal für sie an. Richtig. Er führte sie zu seinen Lippen und küßte sie. Sie spürte den Druck seiner Lippen auf ihren Fingerknöcheln, und sein Atem fuhr warm über ihre Haut.
    Wenn in seiner Mimik nur eine Spur von Kalkül gelegen hätte oder irgend etwas anderes als schmerzvolle Verwirrung, hätte sie das Richtige getan. Sie hätte das Telefon genommen und mit Dr. Bentley oder der Polizei gesprochen und alles gestanden. Aber er hatte Tränen in den Augen.
    »Es liegt in Ihren Händen«, sagte er ergeben und ließ sie los. »Ich überlasse es Ihnen. Ich glaube, das Heim in Louisville ist der richtige Platz für dieses Kind, und ich mache mir die Entscheidung nicht leicht. Sie wird medizinische Pflege benötigen, die sie woanders nicht bekommt. Aber was auch immer Sie tun müssen, ich werde es respektieren. Wenn Sie sich entscheiden, die Behörden zu informieren, werde ich die Schuld auf mich nehmen. Es wird keine Konsequenzen für Sie haben, das verspreche ich Ihnen.«
    Seine Züge waren düster, seine Haut grau. Zum erstenmal kreisten Carolines Gedanken nicht um den Augenblick oder das Baby, sondern gingen darüber hinaus. Es war ihr vorher nie wirklich in den Sinn gekommen, daß sie beide ihre Berufe aufs Spiel gesetzt hatten.
    »Ich weiß nicht«, erwiderte sie langsam. »Ich muß erst darüber nachdenken. Noch weiß ich nicht, was zu tun ist.«
    Er zog sein Portemonnaie heraus und leerte es aus. Es enthielt dreihundert Dollar – sie war entsetzt, daß er so viel Geld bei sich hatte.
    »Ich will Ihr Geld nicht«, sagte sie.
    »Es ist nicht für Sie«, erklärte er. »Es ist für das Kind.«
    |90| »Phoebe, sie heißt Phoebe«, sagte sie nachdrücklich und schob die Scheine zurück.
    »Phoebe«, wiederholte er und erhob sich, um zu gehen. Die Scheine ließ er auf dem Tisch zurück. »Bitte, Caroline, unternehmen Sie nichts, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Das ist alles, worum ich Sie bitte. Wofür auch immer Sie sich entscheiden mögen, setzen Sie mich davon in Kenntnis.«
    Dann verließ er sie, und alles war wie vorher: die Uhr auf dem Kaminsims, der rechteckige Lichtfleck auf dem Boden, die scharf umrissenen Schatten der nackten Äste auf dem Teppich. In ein paar Wochen würden sie ausschlagen, die jungen Triebe würden sich wie Federn von den Bäumen spreizen und das Muster auf dem Boden verändern. Sie hatte das alles schon so oft gesehen, und doch wirkte das Zimmer auf einmal merkwürdig unpersönlich, als hätte sie nie darin gelebt. Da sie sehr genügsam und immer davon ausgegangen war, daß ihr richtiges Leben sowieso woanders stattfinden würde, hatte sie sich über die Jahre nur weniges zugelegt. Zwar mochte sie das karierte Sofa und den dazu passenden braunen Stuhl – sie hatte sich die Möbel schließlich selbst ausgesucht –, aber sie erkannte nun, daß sie sich auch leicht von ihnen trennen konnte. »Warum nicht alles verlassen?« dachte sie plötzlich, als sie die gerahmten Landschaften, den Zeitungsständer aus Korbgeflecht neben dem Sofa und den niedrigen Teetisch betrachtete. Ihre eigene Wohnung kam ihr plötzlich nicht persönlicher als der Warteraum irgendeiner Klinik vor. Und was hatte sie hier auch anderes getan, als zu warten?
    Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen – sicher gab es auch eine undramatischere Art, die Dinge zu bewältigen. Das jedenfalls hätte ihre Mutter gesagt, kopfschüttelnd, bevor sie sie ermahnt hätte, nicht Sarah Bernhardt zu spielen. Caroline hatte lange Jahre nicht gewußt, wer Sarah Bernhardt war, aber was ihre Mutter meinte, war ihr klar: daß nämlich jedes Übermaß an Gefühlen schlecht war und sich zerstörerisch auf die ruhige Ordnung ihrer Tage auswirken würde. So hatte Caroline |91| all ihre Gefühle überprüft, wie man einen Mantel auf Flecken untersucht. Sie hatte sie zur Seite gelegt und sich vorgestellt, daß sie sie später wieder hervorholen würde. Aber natürlich hatte sie das nie getan, nicht, bevor sie das Baby aus Dr. Henrys Armen entgegengenommen hatte. So

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