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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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läuft.«
    »Danke, trotzdem«, sagte sie. »Das war ein nettes Angebot.«
    »Es war mir eine Ehre«, sagte er ernst und erhob sich.
    Caroline sah ihm vom Fenster aus zu, wie er zu seinem Truck ging, die Stufen zur Fahrerkabine hinaufkletterte und sich noch einmal umdrehte, um aus der offenen Tür zu winken. Glücklich über sein Lächeln, das so leicht und bereitwillig auf seinem Gesicht erschien, und überrascht über den Stich in ihrem Herzen, winkte sie zurück. Sie verspürte den Impuls, ihm nachzurennen, als sie an die kleine Kammer hinter der Fahrerkabine dachte, in der er manchmal schlief, und |82| an die Sanftheit, mit der er Phoebes Stirn berührt hatte. Sicherlich würde ein Mann, der ein so einsames Leben führte, ihr Geheimnis, ihre Träume und Ängste bewahren können. Aber da lief schon der Motor, Rauchschwaden stiegen aus dem silbernen Auspuffrohr über der Kabine, und dann bog er vorsichtig vom Parkplatz auf die stille Straße und war verschwunden.

    *

    Den nächsten Tag und die nächste Nacht über richtete sich Carolines Schlaf nach Phoebes Zeitplan. Ansonsten war sie gerade lange genug wach, um etwas zu essen. Es war merkwürdig, sie war immer sehr eigen gewesen, was das Essen betraf. Undisziplinierte Zwischenmahlzeiten hatte sie fast gefürchtet, da sie für sie Zeichen von Exzentrizität und Einsamkeit waren – einer Einsamkeit, in der man nur um sich selber kreiste. Jetzt aber aß sie selbst zu den seltsamsten Zeiten: Müsliflocken direkt aus der Schachtel, Eis, das sie aus dem Karton löffelte, während sie am Küchentresen stand. Ihr war, als befände sie sich in einer Art Zwischenstadium, einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen, in dem sie nicht voll und ganz über die Auswirkungen ihrer Entscheidungen nachdenken mußte, nicht über das Schicksal des Babys, das in einer Schublade ihrer Anrichte schlief, oder über ihr eigenes Schicksal.
    Am Montagmorgen stand sie auf, um sich bei ihrer Arbeitsstelle krank zu melden. Ruby Centers, die Rezeptionsdame, war am Telefon.
    »Sind Sie in Ordnung, Schätzchen?« fragte sie. »Sie klingen grauenhaft.«
    »Ich glaube, ich habe Grippe«, log Caroline. »Wahrschein lich werde ich einige Tage ausfallen. Gibt’s Neuigkeiten?« fragte sie, um einen beiläufigen Ton bemüht. »Hat Dr. Henrys Frau schon ihr Baby bekommen?«
    »Ich weiß nichts Genaues«, sagte Ruby. Caroline stellte sich vor, wie sie nachdenklich die Brauen zusammenzog, |83| und hatte ihren sauber gewischten und für den anstehenden Arbeitstag hergerichteten Schreibtisch vor Augen, in dessen Ecke immer eine kleine Vase mit Plastikblumen stand. »Außer den ungefähr einhundert Patienten ist noch keiner da. Sieht aus, als ob Ihre Grippe auch alle anderen erwischt hat, Fräulein Caroline.«
    Caroline hatte den Hörer kaum aufgelegt, da klopfte es an der Eingangstür. Das mußte Lucy Martin sein. Caroline war erstaunt, daß sie so lange auf sich hatte warten lassen.
    Lucy trug ein Kleid, das mit großen rosa Blumen bedruckt war, eine von pinkfarbenen Rüschen eingefaßte Schürze und flauschige Pantöffelchen. Als Caroline die Tür öffnete, kam sie geradewegs ins Zimmer, einen halben Laib Bananenbrot, der in Plastikfolie gewickelt war, unter dem Arm.
    Obwohl man sagte, daß Lucy ein goldenes Herz habe, machte ihre bloße Anwesenheit Caroline nervös. Lucys Kuchen und Pasteten und die warmen Mahlzeiten, die sie mitbrachte, waren ihre Eintrittskarte in das Zentrum jeglichen Dramas – egal, ob es sich um Todesfälle, Geburtstage, Unfälle, Hochzeiten oder Totenwachen handelte. Ihr Eifer war nicht ganz aufrichtig, und ihre schaurige Gier nach schlechten Nachrichten hatte den Beigeschmack von Voyeurismus, so daß Caroline normalerweise versuchte, sich von ihr fernzuhalten.
    »Ich habe deinen Besucher gesehen«, sagte Lucy jovial und tätschelte Carolines Arm. »Meine Güte, was für ein gutaussehender Mann! Ich konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren.«
    Lucy setzte sich auf das Schlafsofa, das schon wieder zusammengeklappt war. Caroline nahm sich den Lehnstuhl. Die Schlafzimmertür, hinter der Phoebe schlief, stand offen.
    »Du bist doch nicht etwa krank, Liebes?« quatschte Lucy weiter. »Weil du um diese Uhrzeit normalerweise doch schon längst aus dem Haus bist.«
    |84| Caroline studierte Lucys eifrigen Gesichtsausdruck und war sich bewußt, daß alles, was sie sagen würde, bald die ganze Stadt wußte – daß sie in zwei oder drei Tagen, beim Gemüsehändler oder in der Kirche, auf den

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