Die Tochter des Fotografen
Fremden angesprochen werden würde, der die Nacht in ihrer Wohnung verbracht hatte.
»Das war mein Cousin, den du letzte Nacht gesehen hast«, sagte Caroline leichthin, völlig verblüfft darüber, daß ihr die Lügen auf einmal so flüssig und selbstverständlich über die Lippen kamen. Sie schienen ihr zuzufliegen, und sie log, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ach, und ich dachte schon …«, sagte Lucy enttäuscht.
»Ich weiß«, erwiderte Caroline seufzend. Und als sie fortfuhr, holte sie zu einem Präventivschlag aus, über den sie sich noch später wundern würde. »Armer Al. Seine Frau liegt im Krankenhaus.« Sie rückte etwas dichter an Lucy heran und senkte die Stimme. »Es ist eine so traurige Geschichte. Sie ist erst fünfundzwanzig, aber hat vielleicht einen Hirntumor. Al hat sie von Somerset hierhergebracht, um einige Spezialisten zu Rate zu ziehen. Und dann haben sie noch dieses kleine Baby. Ich habe ihm gesagt, geh und bleibe bei ihr im Krankenhaus, wenn nötig Tag und Nacht, und laß das Baby solange bei mir. Ich glaube, sie haben das Angebot leichten Herzens angenommen, weil ich Krankenschwester bin. Ihr Geschrei hat dich doch hoffentlich nicht belästigt?«
Für ein paar Augenblicke verharrte Lucy in fassungslosem Schweigen, und Caroline begriff, welches Vergnügen es einem bereiten konnte – und welche Macht es einem gab –, jemandem aus heiterem Himmel einen Schlag zu versetzen.
»Die Armen! Wie alt ist das Baby?«
»Erst drei Wochen«, seufzte Caroline und stand energisch auf. »Warte mal einen Augenblick!«
Sie ging ins Schlafzimmer und hob Phoebe aus ihrer Schublade, wobei sie darauf achtete, die Decken eng um sie geschlungen zu halten.
|85| »Ist sie nicht süß?« fragte sie und setzte sich neben Lucy.
»O ja, die ist ja niedlich!« nickte Lucy und berührte Phoebes winzige Hand.
Stolz und Freude überkamen Caroline, und sie lächelte. Phoebes Gesichtszüge, die ihr im Kreißsaal aufgefallen waren – die schrägen Augen, die leicht abgeflachte Nase –, waren ihr schon so vertraut, daß sie sie kaum mehr wahrnahm. Lucys ungeübte Augen sahen die Abnormitäten nicht einmal. Phoebe war wie jedes andere Baby auch: zart, bezaubernd und ungestüm, wenn sie etwas brauchte.
»Ich liebe es, sie nur anzusehen«, gestand Caroline.
»Aber diese arme junge Mutter«, flüsterte Lucy. »Glaubst du, daß sie überleben wird?«
»Keiner weiß es. Wir werden sehen.«
»Sie müssen ja am Boden zerstört sein.«
»Ja, leider. Sie haben komplett ihren Appetit verloren«, gestand Caroline, womit sie verhindern wollte, daß Lucy eine ihrer berühmten warmen Mahlzeiten vorbeibrachte.
*
An den folgenden Tagen ging Caroline nicht aus dem Haus, und die Außenwelt drang nur in Form von Zeitungen, Lebensmittellieferungen, Milchmännern und dem Geräusch des Verkehrs zu ihr durch. Das Wetter schlug um, und der Schnee war so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Er rutschte von Dächern und Häuserfronten und entwich in die Kanalisation. Für Caroline verschmolzen die Tage zu einem Strom von ungeordneten Bildern und Eindrücken: der Anblick ihres Ford Fairlane, dessen Batterien aufgeladen worden waren, das Sonnenlicht, das durch schmutzige Scheiben fiel, der dunkle Geruch feuchter Erde, ein Rotkehlchen am Futterspender. Sie erlebte Zeiten, in denen sie sich Sorgen machte, aber oft, wenn sie Phoebe auf dem Schoß hatte, war sie überrascht, wie vollkommen zufrieden und ruhig sie war. Was sie Lucy Martin erzählt hatte, stimmte – sie liebte es, |86| dieses Baby anzusehen, sie genoß es, im Sonnenlicht zu sitzen und es zu wiegen. Trotzdem ermahnte sie sich, sich nicht in Phoebe zu verlieben, da sie ja nur eine Zwischenstation war. Caroline hatte David Henry oft genug bei der Arbeit beobachtet, als daß sie nicht an sein Mitgefühl glaubte. Als er in jener Nacht den Kopf gehoben und sie sich tief in die Augen gesehen hatten, hatte sie in ihnen unendlich große Güte gelesen. Hatte er einmal den Schock überwunden, würde er das Richtige tun, daran zweifelte sie nicht.
Jedesmal wenn das Telefon klingelte, schreckte sie auf. Aber die Tage vergingen ohne eine Nachricht von ihm. Am Dienstagmorgen klopfte es. Caroline eilte zur Tür, wobei sie den Gürtel ihres Kleides zurechtschob und den Sitz ihres Haares überprüfte. Aber es war nur ein Kurier, der ihr eine Vase mit Blumen entgegenstreckte: Dunkelrot und blasses Rosa in einer Wolke von Schleierkraut. Sie waren von Al. »Ein Dankeschön für die
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