Die Tochter des Fotografen
hatte etwas seinen Lauf genommen, das sie nicht aufhalten konnte. Ihre Empfindungen wechselten zwischen Angst und Begeisterung. Sie konnte diesen Ort heute verlassen und irgendwo anders ein neues Leben anfangen. Da sie in einer Kleinstadt lebte, müßte sie das sowieso tun, egal, wie ihre Entscheidung ausfiel. Sie konnte nicht einmal zum Gemüseladen gehen, ohne einen Bekannten zu treffen. Außerdem stellte sie sich vor, mit welch bedeutungsvollen Blicken und welch heimlichem Vergnügen Lucy Martin Carolines Lügen herumerzählen und ihre Liebe zu diesem ausgestoßenen Baby bloßstellen würde. »Arme alte Jungfer«, würden die Leute sagen, »hat sich verzweifelt nach einem eigenen Baby gesehnt.«
Zugegeben, sie hatte sich danach gesehnt. Und was war schon dabei? Warum sollte sie nicht, wie andere auch, Träume und Sehnsüchte haben?
»Ich lege es in Ihre Hände, Caroline«, hatte er gesagt, und sein Gesicht schien gealtert zu sein, runzlig wie eine Walnuß.
*
Am nächsten Tag wachte Caroline früh auf. Das Wetter war wunderschön, und sie öffnete die Fenster, um die frische, nach Frühling duftende Luft hereinzulassen. Phoebe war nachts zweimal aufgewacht. Während sie schlief, hatte Caroline gepackt und ihre Sachen im Schutz der Dunkelheit ins Auto getragen. Es war nicht viel gewesen, nur ein paar Koffer, die leicht im Kofferraum und auf der Rückbank des Fairlane Platz gefunden hatten. Die Vorstellung, daß sie jederzeit nach China, Burma oder Korea hätte aufbrechen können, gefiel ihr. Auch mit dem, was sie erreicht hatte, war sie zufrieden. Schon mittags war alles Nötige organisiert: die |92| Möbel würden von Goodwill übernommen werden; ein Reinigungsdienst würde die Wohnung in einen ordentlichen Zustand versetzen. Sie hatte Wasser- und Energieversorgung gestoppt, Telefon und Zeitung gekündigt und Briefe geschrieben, um ihre Bankkonten aufzulösen.
Caroline trank Kaffee und wartete, bis sie hörte, wie unten die Tür zugeschlagen und Lucys Auto angeworfen wurde. Dann hob sie Phoebe schnell hoch und verharrte einen Moment auf der Schwelle zu ihrer Wohnung, in der sie so viele hoffnungsvolle Jahre verbracht hatte, Jahre, die ihr im Rückblick so flüchtig vorkamen, als hätte es sie nie gegeben. Schließlich zog sie die Tür fest hinter sich zu und ging die Treppe hinunter.
Sie stellte Phoebes Kiste auf den Rücksitz und fuhr in die Stadt. Ihr Weg führte sie an der Klinik mit den türkisfarbenen Wänden und dem orangefarbenen Dach vorbei, an der Bank, der chemischen Reinigung und ihrer Lieblingstankstelle. Als sie die Kirche erreichte, parkte sie an der Straße und ließ Phoebe im Auto schlafen. Auf dem Kirchhof waren mehr Leute versammelt, als sie vermutet hatte. Sie wartete am äußersten Rand, nah genug, um Dr. Henrys von der Kälte geröteten Nacken und Norah Henrys blondes, zu einen strengen Knoten geschlungenes Haar sehen zu können. Niemand beachtete sie. Ihre Absätze sanken in den Matsch am Rande des Bürgersteiges, und sie verlagerte ihr Gewicht auf die Zehenspitzen, während sie sich an den muffigen Geruch des Heims erinnerte, zu dem Dr. Henry sie letzte Woche geschickt hatte, und an die Frau im Slip; dunkle Haare, die zu Boden fallen.
Worte trieben in der stillen, klaren Morgenluft an ihr vorbei.
Dein ist der Tag, und dein ist die Nacht.
In den letzten Tagen und Nächten hatte Caroline keinen regelmäßigen Schlaf mehr gefunden. Mitten in der Nacht hatte sie am Küchenfenster gestanden und Kekse gegessen. Ihre Tage ließen sich von den Nächten nicht mehr unterscheiden, |93| die beruhigende Regelmäßigkeit ihres bisherigen Lebens war ein für allemal Vergangenheit.
Norah Henry wischte sich mit einem Spitzentuch die Tränen weg. Caroline erinnerte sich an ihren festen Griff, als sie erst ein Baby und dann das andere herauspreßte, und auch an die Tränen in ihren Augen. Es würde sie zerstören, hatte David Henry erklärt. Was würde wohl passieren, wenn Caroline jetzt mit dem verlorenen Baby im Arm in Erscheinung träte? Was wäre, wenn sie diese Trauer unterbräche, nur um noch mehr Leid zu stiften?
Du hast unsere Missetaten vor dich gestellt, und unsere geheimen Sünden liegen im Lichte deines Antlitzes.
Während der Geistliche sprach, verlagerte David Henry sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Zum erstenmal wurde Caroline wirklich bewußt, was sie im Begriff war zu tun. Der Kies schien sich durch ihre Schuhe zu drücken, und die Gruppe auf dem Kirchhof schwankte vor
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