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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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einem Ziel vor Augen, wanderte sie von Raum zu Raum und nahm Fenster, elektrische Anschlüsse und die Maserung des Fußbodens ins Visier. Es erschien ihr lebenswichtig, jedes Detail festzuhalten. Irgendwann glitt ihr im Wohnzimmer eine ausgebrannte Glühbirne aus der Hand und zersprang; als sie zurückwich, bohrte sich ein Glassplitter in ihre Ferse. Sie untersuchte ihren Strumpf, und einen Augenblick lang beeindruckte und amüsierte es sie, wie betrunken sie war; aus alter Gewohnheit mußte sie ihre nassen Schuhe am Eingang abgestellt haben. Noch zweimal durchschritt sie das Haus und dokumentierte dabei Lichtschalter, Fenster und das Rohr, das das Gas in den zweiten Stock leitete. Erst auf ihrem Weg zurück ins Erdgeschoß begriff sie, daß ihr Fuß blutete und eine Spur von verschmierten, furchterregenden Herzen hinterließ, kleine blutige Valentinsgrüße.
    Norah war erschrocken über das Ausmaß der Verschmutzung, die sie verursacht hatte, aber gleichzeitig faszinierte es sie auch. Sie fand ihre Schuhe und ging nach draußen. Die Kamera baumelte noch immer an ihrem Handgelenk, und ihre Ferse pochte, als sie ins Auto stieg.
    Später würde sie sich nicht mehr genau an diese Fahrt erinnern können. Nur die dunklen, engen Straßen, der Wind in den Bäumen, das von den Pfützen aufspringende Licht und das Wasser, das von ihren Reifen spritzte, würden ihr im Gedächtnis bleiben. Das Krachen, als Metall auf Metall schlug, |113| war ebenfalls vergessen, nur der plötzliche, erschreckende Anblick einer Mülltonne, die glänzend vor ihrer Windschutzscheibe aufflog, hatte sich ihr eingeprägt. Bevor sie herunterkam, schien die regennasse Tonne lange in der Luft zu schweben, dann traf sie das Verdeck, rollte nach hinten und zerschmetterte die Heckscheibe. Das Auto sprang über den Bordstein und kam auf dem Mittelstreifen, neben einer Sumpfeiche, sanft zum Stehen. Obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, gegen die Windschutzscheibe geprallt zu sein, sah diese aus wie ein Spinnennetz. Die verschlungenen Sprünge fächerten sich in feine, schöne und präzise Linien auf. Als sie ihre Hand, die sie gegen die Stirn gepreßt hatte, zurückzog, war diese leicht mit Blut verschmiert.
    Sie stieg nicht aus. Auf der Straße rollte die Mülltonne noch weiter. Dunkle Schatten – Katzen – lauerten am Rand des Mülls, der in weitem Bogen verstreut lag. In dem Haus zu ihrer Rechten gingen Lichter an, und ein Mann, in Morgenmantel und Hausschuhen, kam heraus und eilte auf ihr Auto zu.
    »Geht es Ihnen gut?« fragte er, als er sich zu ihrem Fenster herunterbeugte, das sie langsam herunterkurbelte. Die kalte Nachtluft klatschte in ihr ins Gesicht. »Was ist passiert? Sind Sie in Ordnung? Ihre Stirn blutet!« setzte er nach und zog ein Taschentuch aus seiner Tasche.
    »Nichts passiert«, sagte Norah und wehrte sein Taschentuch, das verdächtig zerknautscht war, mit einer Handbewegung ab. Wieder drückte sie ihre Hand vorsichtig an ihre Stirn und wischte dabei einen anderen Blutfleck weg. Der Fotoapparat, der noch immer um ihren Hals hing, tippte leicht gegen das Lenkrad. Sie zog ihn über den Kopf und legte ihn vorsichtig neben sich auf den Sitz. »Heute ist mein Hochzeitstag«, informierte sie den Fremden. »Meine Ferse blutet auch.«
    »Brauchen Sie einen Arzt?« fragte der Mann.
    »Mein Mann ist Arzt«, erklärte Norah, wobei ihr der fragende Gesichtsausdruck des Mannes auffiel, der wahrscheinlich |114| darauf zurückzuführen war, daß sie einen Moment vorher unzusammenhängende Sachen von sich gegeben hatte. Vielleicht ergab auch das, was sie gerade sagte, noch keinen Sinn. »Er ist Arzt«, wiederholte sie bestimmt. »Ich werde ihn suchen.«
    »Ich denke, Sie sollten lieber nicht fahren«, versuchte sie der Mann zu überzeugen. »Warum lassen Sie das Auto nicht hier stehen, und ich rufe einen Krankenwagen?«
    Angesichts seiner Freundlichkeit füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber dann stellte sie sich vor, wie das ablaufen würde. Lichter, Sirenen und sanfte Hände würden kommen und David. Er würde sie, ungepflegt, blutig und ziemlich betrunken, in der Unfallstation vorfinden – ein Skandal und eine Schande.
    »Nein«, sagte sie und wählte ihre Worte nun sehr vorsichtig. »Es geht mir wirklich gut. Eine Katze ist über die Straße gerannt und hat mich erschreckt. Aber jetzt geht es mir wirklich gut. Ich werde einfach nach Hause fahren, und mein Mann wird sich um diesen Schnitt kümmern. Es ist nicht der Rede wert.«
    Der

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