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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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hatte sich den ganzen Tag darüber den Kopf zerbrochen. Wie sollte sie sein? Früher hatte sie das einmal gewußt: Sie war die Tochter ihrer Eltern gewesen, dann Studentin und Telefonvermittlerin. Dies waren Rollen, die sie mit Leichtigkeit und Sicherheit ausgefüllt hatte. Dann war sie zu einer Verlobten, einer jungen Ehefrau und Mutter geworden und hatte entdeckt, daß diese Worte viel zu klein waren, um für all die Erfahrungen, die damit einhergingen, jemals stehen zu können.
    Noch als alle Wespen tot sein mußten, tanzte Norah wild und entschlossen auf der breiigen Masse herum. Etwas passierte mit ihr. Die Welt und sie selbst hatten sich irgendwie verändert. In dieser Nacht, als das Ausbildungsgebäude für Reserveoffiziere bis auf die Grundmauern niederbrannte und die Flammen in der warmen Frühlingsnacht erblühten, würde |186| Norah von Wespen und Bienen träumen und von traumgroßen Hummeln, die durch hohe Gräser schwebten. Am nächsten Tag würde sie den Staubsauger ersetzen, ohne David je von diesem Vorfall zu erzählen. Sie würde den Smoking für Kays Wohltätigkeitsveranstaltung wieder abbestellen und den Job im Reisebüro annehmen. Ein eigenes Leben, voller Glanz und Abenteuer, würde für sie beginnen.
    Das war die Zukunft. Im Augenblick aber konnte sie an nichts anderes denken als an die Bewegung ihrer Füße. In der Ferne brüllten die Demonstranten, und der anschwellende Lärm der Masse drang durch die strahlende Frühlingsluft an ihr Ohr. In ihren Schläfen pochte das Blut. Was dort geschah, war auch hier, in der Stille ihres eigenen Gartens und in den versteckten Winkeln ihres Herzens, geschehen: eine Explosion, die es unmöglich machte, daß das Leben je wieder so sein würde, wie es vorher gewesen war.
    In der Nähe der wilden und feurigen Azaleen brummte eine einzelne Wespe, bevor sie wütend abschwirrte. Norah stieg von dem matschigen Papiersack, der mit Flügeln und Wespensekret verschmiert war. Benommen, aber stocknüchtern, überquerte sie den Rasen und tastete nach ihren Schlüsseln. Als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag, stieg sie ins Auto, um ihren Sohn abzuholen.

|187| 9. Kapitel
    Mai 1970
    P APA? PAAPA!«
    Als er die Stimme seines Sohnes hörte und seine leichten, schnellen Schritte auf der Treppe erkannte, blickte David von dem belichteten Papierbogen auf, den er gerade in das Entwicklerbad hatte gleiten lassen.
    »Warte!« rief er ihm zu. »Nur eine Minute, Paul.« Aber noch während er sprach, war die Tür aufgeflogen, und Licht durchflutete den Raum.
    »Mist!« David sah, wie der Bogen schnell dunkel wurde, und mußte das Bild in der plötzlichen Helligkeit verloren geben. »Verdammt, habe ich dir nicht millionen-, billionen-, trillionenmal gesagt, daß du nicht reinkommen sollst, wenn das rote Licht brennt?«
    »Tut mir leid, Papa.«
    David holte tief Luft und war schon wieder etwas besänftigt. Paul war immerhin erst sechs und sah ziemlich klein aus, wie er da so im Türrahmen stand. »Ist schon gut. Komm rein. Ich wollte dich nicht anschreien.«
    Er hockte sich hin und breitete seine Arme aus. Paul ließ sich hineinfallen und schmiegte seinen Kopf kurz an Davids Schulter, der die Stoppeln seines neuen Haarschnittes weich und zugleich stachelig an seinem Hals spürte. Paul war leicht, drahtig und stark, ein Junge, der wie Quecksilber durch die Welt glitt, ruhig und wachsam und eifrig darum bemüht, anderen zu gefallen. David, der den Zornausbruch bedauerte, küßte ihn auf die Stirn, wobei er über die Schulterblätter seines Sohnes staunte, die sich elegant und vollkommen wie Flügel unter Haut und Muskeln spannten.
    |188| »Okay. Was ist denn so wichtig?« fragte er und verlagerte sein Gewicht auf die Fersen. »Was ist so wichtig, daß du hier reinplatzt und alle Fotos ruinierst?«
    »Schau, Papa«, gestikulierte Paul eifrig. »Sieh, was ich gefunden habe!«
    Er öffnete seine kleinen Fäuste. Auf seiner Hand lagen mehrere flache Steine, dünne Scheiben mit einem Loch in der Mitte, die die Größe von Knöpfen hatten.
    »Die sind ja toll«, erwiderte David begeistert und nahm einen Stein hoch. »Wo hast du die denn gefunden?«
    »Gestern, als ich mit Jason auf den Hof seines Opas gefahren bin. Da gibt es einen Bach, und man muß vorsichtig sein, weil Jason letzten Sommer dort eine Mokassinschlange gesehen hat; aber jetzt ist es zu kalt. Deswegen sind wir hindurchgewatet, und da habe ich sie gefunden, direkt am Ufer.«
    »Toll.« David befühlte die Fossilien, die leicht

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