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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Kay sich doch schätzen konnte, und sie war sich dessen noch nicht einmal bewußt.
    Norah zog ihre Handschuhe an, und trat in die Sonne zurück. Außer einem Stich in den Zeh, den sie als Achtjährige bekam, hatte sie keine Erfahrung mit Wespen oder Bienen. Der Stich hatte eine Stunde lang weh getan und war dann verheilt. Als Paul die tote Biene vom Boden aufgehoben und vor Schmerz aufschrien hatte, war sie überhaupt nicht in Panik geraten. Sie würde Eis auf die Schwellung tun und ihn tröstend umarmen, und alles würde wieder gut werden. Aber Schwellung und Rötung hatten sich, von der Hand ausgehend, schnell ausgebreitet. Als sein Gesicht angeschwollen war, hatte sie David mit zitternder Stimme gerufen. Er wußte gleich, was geschehen war und welches Mittel man ihm geben mußte. Innerhalb von Sekunden begann Paul leichter zu atmen. »Nichts passiert«, sagte David. Zwar stimmte das, aber ihr wurde immer noch schlecht vor Angst, wenn sie daran zurückdachte. Was wäre geschehen, wenn David nicht zu Hause gewesen wäre?
    Einige Minuten lang beobachtete sie die Wespen, während ihre Gedanken zu den Demonstranten auf dem Hügel wanderten; eine pulsierende Welt, die aus den Fugen geraten war. Sie hatte immer das getan, was man von ihr erwartet hatte. Zuerst hatte sie studiert, dann eine Stelle angenommen; später David geheiratet, der eine gute Partie war. Doch jetzt, seit der Geburt ihrer Kinder, konnte Norah die Welt nicht mehr so sehen wie früher. Phoebes Verlust hatte sie hilflos zurückgelassen, und sie bekämpfte diese Hilflosigkeit, indem sie versuchte, ihre Tage mit Aktivitäten auszufüllen. Phoebe, die gerade durch ihre Abwesenheit gegenwärtig war, die in Träumen auftauchte und jeden Moment schattenhaft begleitete.
    Jetzt untersuchte sie entschlossen das Werkzeug. Sie würde mit diesen Wespen allein fertig werden. Die langstielige Hacke wog schwer in ihrer Hand. Langsam hob sie sie an und |182| holte zu einem kühnen, wuchtigen Schlag aus. Die Schneide glitt leicht durch die papierne Haut des Nestes. Die Kraft dieses Angriffsschlages faszinierte sie. Aber als sie die Hacke zurückzog, rasten die Wespen aus dem zerborstenen Nest und flogen direkt auf sie zu. Eine stach sie in den Unterarm, eine andere in die Wange. Sie ließ die Hacke fallen, rannte ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich atemlos dagegen.
    Draußen kreiste der Schwarm mit wütendem Surren um das zerstörte Nest. Einige Wespen landeten auf dem Fensterbrett. Ihre zarten Flügel bewegten sich sacht. Das wütende Schwirren erinnerte sie an die Studenten, die sie heute morgen gesehen hatte – und an sich selbst. Sie ging in die Küche und mixte sich einen neuen Drink. Erst danach tupfte sie etwas Gin auf Wange und Unterarm, wo die Stiche schmerzhaft anzuschwellen begannen. Der Gin schmeckte köstlich und scharf und hinterließ ein wohliges Gefühl von Wärme und Stärke. Noch blieb ihr eine Stunde, bevor sie aufbrechen mußte, um Paul abzuholen.
    »So, ihr verdammten Wespen«, sagte sie laut. »Euch habe ich es gegeben.«
    Im Schrank fand sie Insektenschutzmittel, unter Mänteln und Schuhen und dem Staubsauger – einem stahlblauen, brandneuen Elektrolux. Bree, die ihr blondes Haar aus dem Gesicht strich, kam ihr in den Sinn. »Einen Staubsauger vor sich herschieben« – war es das, was sie vom Leben wollte?
    Norah war schon halb aus der Tür, als ihr eine Idee kam. Die Wespen waren bereits dabei, ihr Nest wieder zusammenzubauen. Sie schienen Norah nicht zu bemerken, die, den Elektrolux in den Händen, nach draußen trat. Die Maschine hockte unpassend und merkwürdig in der Einfahrt, wie ein hellblaues Schwein. Wieder zog Norah Handschuhe und Hut über, und diesmal auch einen Mantel. Dann schlang sie sich einen Schal ums Gesicht. Sie steckte den Staubsauger in die Steckdose, stellte ihn an und ließ ihn einen Augenblick |183| lang brummen, was sich im Freien seltsam leise anhörte, bevor sie die Mündung hochhob. Mutig steckte sie das Stahlrohr in die Überreste des Nestes. Die Wespen summten bedrohlich und flogen Angriffe auf Norah – ihre Wange und ihr Arm brannten bei ihrem bloßen Anblick –, aber sie wurden schnell eingesogen. Der klappernde Laut, der dabei ertönte, hörte sich an, als würden Eicheln auf ein Dach fallen. Sie schwenkte das Stahlrohr wie einen Zauberstab durch die Luft, saugte all die wütenden Insekten ein und zerfetzte ihr feines Nest. Bald waren keine Tiere mehr da. Während sie nach etwas suchte,

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