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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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herschieben ist also besser?«
    Norah dachte an den brausenden Wind und an den Ohio River, der nur einen Schritt entfernt brodelte. Sie preßte die Lippen zusammen und antwortete nicht.
    »Norah, du machst mich so wütend. Warum hast du eine solche Angst, etwas zu verändern? Warum bist du nicht einfach du selbst und wartest ab, wie sich die Dinge entwickeln?«
    »Ich bin ich selbst. Du hast ja keine Ahnung!«
    »Ich sehe nur, daß du den Kopf in den Sand steckst.«
    |179| »Das einzige, was du siehst, ist der nächste verfügbare Mann.«
    »Das war’s. Ich bin fertig mit dir.« Bree machte nur einen Schritt und wurde sofort von der Menge verschluckt; ein kurzes Aufleuchten von Farbe, und im nächsten Moment war sie verschwunden.
    Norah stand noch einen Moment, vor Zorn bebend, unter den Trompetenbäumen. Sie wußte selbst, daß ihre Wut unerklärlich war. Was war nur mit ihr los? Wie konnte sie in einem Moment Kay Marshall und im nächsten Bree beneiden?
    Durch die Menschenmenge trat sie den Rückweg zu ihrem Auto an. Nach den Unruhen und Protesten wirkten die Straßen öde und farblos und schienen eine beunruhigende Normalität auszustrahlen. Seltsamerweise war nicht viel Zeit vergangen; ihr blieben noch zwei Stunden, bis sie Paul abholen mußte; zuwenig, um den Fluß zu erreichen.
    Zu Hause in ihrer ruhigen, sonnigen Küche machte sich Norah einen Gintonic. Das Glas in ihrer Hand war fest und kühl, und das Eis klimperte mit ermutigender Heiterkeit. Im Wohnzimmer hielt sie vor der Fotografie inne, die sie auf der Steinbrücke zeigte. Wenn sie an diesen Tag zurückdachte – an ihre Wanderung und ihr Picknick –, kam ihr nie dieser Moment in den Sinn. Statt dessen erinnerte sie sich an die Landschaft, die sich tief unter ihr ausbreitete, an die Sonne und die sanfte Brise auf ihrer Haut. »Laß mich ein Foto von dir machen«, hatte David damals hartnäckig gerufen. Nachdem sie sich umgedreht hatte, sah sie, daß er kniete und die Kamera auf sie richtete, darauf versessen, einen Moment einzufangen, der nie wirklich existiert hatte. Sie hatte mit der Kamera goldrichtig gelegen, wie sie nun mit Bedauern feststellte. David, den die Fotografie so faszinierte, daß es an Besessenheit grenzte, hatte sich über der Garage eine Dunkelkammer eingerichtet.
    David. Wie war es möglich, daß ein Mensch mit den Jahren immer mysteriöser, aber gleichzeitig auch vertrauter wurde? |180| Er hatte ein Paar Bernsteinmanschetten auf der Truhe unter den Fotos liegenlassen. Norah nahm sie in die Hand, während sie dem leisen Ticken der Uhr im Wohnzimmer lauschte.
    Die Steine erwärmten sich in ihrer Hand; ihre Glätte war tröstlich. Norah fand überall Steine. Sie kullerten aus Davids Taschen, lagen verstreut auf der Anrichte und steckten in Briefumschlägen im Schreibtisch. Manchmal erspähte sie David und Paul im Garten, wie sie die Köpfe über einem ihnen interessant erscheinenden Stein zusammensteckten. Wenn sie sie dann weiter beobachtete, weitete sich ihr Herz, und sie ließ eine vorsichtige Freude zu. Solche Momente waren selten; David war dieser Tage sehr beschäftigt. Ja, wollte ihm Norah dann zurufen. Nimm dir eine Minute. Verbringe etwas Zeit mit deinem Sohn, er wird so schnell groß.
    Norah ließ die Manschettenknöpfe in ihre Tasche gleiten und nahm ihren Drink mit nach draußen. Sie stand unter dem papiernen Nest und sah den Wespen dabei zu, wie sie es umkreisten, um dann darin zu verschwinden. Von Zeit zu Zeit flog eine von ihnen, vom süßen Geruch des Gins angelockt, dichter an sie heran. Sie nippte und betrachtete das Schauspiel. Ihre Muskeln und jede einzelne ihrer Zellen entspannten sich in einer fließenden Kettenreaktion, und ihr war, als hätte sie die Wärme des Tages verschluckt. Sie leerte den Gin und stellte das Glas in der Einfahrt ab. Dann ging sie um Pauls Dreirad herum, um ihre Gartenhandschuhe und ihren Hut zu suchen. Bald schon würde er dafür zu groß sein, und sie würde es mit den anderen Sachen wegpacken – seinen Babykleidern und dem Spielzeug, dem er entwachsen war. David wollte keine weiteren Kinder, und jetzt, da Paul zur Schule ging, hatte sie es aufgegeben, mit ihm über dieses Thema zu streiten. Sie konnte sich selbst kaum vorstellen, wie es wäre, wieder Windeln zu wechseln und um zwei Uhr nachts zu stillen, aber trotzdem sehnte sie sich oft danach, noch einmal ein Baby in den Armen zu halten. Sie erinnerte |181| sich an die angenehme Wärme und die Leichtigkeit von Angela. Wie glücklich

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