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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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ab. »Nicht um mich.«
    »Muß ich nicht?« David holte so tief Atem, daß Paul den Luftstrom hören konnte.
    »Nein. Ich habe gestern eine Stelle angeboten bekommen.«
    »Eine Stelle?«
    »Ja. Ein gutes Angebot.« Sie erzählte ihm von dem Reisebüro. Sie würde rechtzeitig nach Hause kommen, um Paul von der Schule abzuholen. Während sie sprach, kam es David so vor, als würde sie vor ihm fliehen. »Ich bin ja fast verrückt geworden«, setzte Norah mit einer Heftigkeit nach, die ihn überraschte. »Ich weiß nicht mehr, wohin mit der ganzen Zeit, die ich zur Verfügung habe. Eine geregelte Arbeit wird mir guttun.«
    |208| »Okay«, stimmte er zu. »Wenn du dir so sehr wünschst zu arbeiten, dann tu’s.« Er kitzelte Paul und griff nach dem Otoskop. »Hier«, forderte er ihn auf. »Sieh in meine Ohren. Schau nach, ob ich dort irgendwelche Vögel vergessen habe.«
    Paul lachte, und das kühle Metall streifte Davids Ohrläppchen.
    »Ich wußte, daß dir das nicht gefallen würde«, sagte Norah.
    »Was meinst du? Ich habe dir gerade gesagt, daß du die Stelle annehmen sollst.«
    »Ja, aber in einem Ton … Du solltest dich hören.«
    »Ja, was erwartest du denn?« entgegnete er ihr, wobei er Paul zuliebe versuchte, seine Stimme im Zaum zu halten. »Es fällt mir schwer, dein Vorgehen nicht als Kritik aufzufassen.«
    »Es wäre nur dann eine Kritik, wenn es um dich gehen würde«, erklärte sie langsam. »Das ist es, was du nicht verstehen kannst. Es geht nicht um dich. Es geht um Freiheit, um mich, darum, daß ich ein eigenes Leben haben möchte. Ich wünschte, du könntest das verstehen.«
    »Freiheit?« wiederholte er. Sie hatte wieder mit ihrer Schwester gesprochen, darauf wettete er seinen Kopf. »Glaubst du denn, daß es jemanden gibt, der frei ist? Hältst du mich für frei?«
    Es entstand eine lange Pause, und er war dankbar, als Paul sie unterbrach.
    »Keine Vögel, Papa. Nur Giraffen.«
    »Ist das wahr? Wie viele?«
    »Sechs.«
    »Sechs! Großer Gott! Dann schau mal lieber auch im anderen Ohr nach.«
    »Vielleicht gefällt es mir ja auch gar nicht«, räumte Norah ein. »Aber wenigstens weiß ich dann, daß es nichts für mich war.«
    »Keine Vögel«, stellte Paul fest. »Keine Giraffen. Nur Elefanten.«
    |209| »Elefanten im Gehörgang«, sagte David und nahm das Otoskop an sich. »Am besten gehen wir gleich nach Hause.« Er zwang sich zu einem Lächeln und bückte sich, um Paul auf den Arm zu nehmen. Als er das Gewicht seines Sohnes und die Wärme seines gesunden, nackten Armes am Nacken spürte, sann David darüber nach, wie sich ihr Leben wohl entwickelt hätte, wenn er damals, vor vielen Jahren, eine andere Entscheidung getroffen hätte. Während es draußen schneite und er inmitten dieser unheimlichen Stille ganz für sich war, hatte er, in einem einzigen, entscheidenden Augenblick, ihrer aller Leben verändert. »David«, hatte Caroline Gill in ihrem letzten Brief geschrieben, »ich habe jetzt einen Lebensgefährten, er ist sehr nett, und Phoebe geht es gut. Sie liebt es, Schmetterlinge zu fangen und zu singen.«
    »Ich freue mich, daß du eine Stelle gefunden hast«, wandte er sich an Norah, als sie im Flur auf den Fahrstuhl warteten. »Ich will dir auch keine Steine in den Weg legen. Aber ich glaube nicht, daß deine Entscheidung nichts mit mir zu tun hat.«
    Sie seufzte. »Du willst es einfach nicht verstehen, oder?«
    »Was soll das heißen?«
    »Daß du dich für den Nabel der Welt hältst«, erklärte sie. »Du bist der Mittelpunkt, um den sich alles andere dreht.«
    Sie sammelten ihre Sachen ein und stiegen in den Fahrstuhl. Draußen war es noch immer schön, ein klarer und sonniger Tag. Als sie zu Hause ankamen, hatte sich die Gesellschaft bereits aufgelöst. Nur Bree und Mark waren noch da und trugen Platten mit Essen ins Haus. Eine leichte Brise ließ die Bänder des Maibaumes flattern. Auf dem Tisch lag Davids Kamera, und daneben türmten sich Pauls Fossilien in einem ordentlichen Stapel. David hielt inne und ließ seinen Blick über den mit Stühlen übersäten Garten schweifen. Früher war dies alles vom Wasser eines seichten Meeres bedeckt gewesen. Er trug Paul in sein Zimmer, brachte ihm etwas Wasser und gab ihm ein Aspirin zum Kauen, das Paul mochte, weil |210| es nach Orange schmeckte. Dann setzte er sich mit ihm auf das Bett und hielt seine Hand. Klein war sie, diese Hand, und so warm und lebendig.
    »Papa, lies mir eine Geschichte vor«, bat Paul, und seiner Bitte folgend, ließ

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