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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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im Alter von zwölf Jahren gestorben. Sie war nur noch eine geliebte Erinnerung – nichts als ein Haufen Knochen.
    Und seine sechsjährige Tochter spazierte durch die Welt, ohne daß er sie je gesehen hatte.
    Als er zurückkam, hielt Norah Paul auf dem Schoß, obwohl er fast schon zu groß dafür war, und sein Kopf ruhte unbeholfen auf ihrer Schulter. Sein Arm zitterte, von kleinen Krämpfen erschüttert, die auf das Trauma zurückzuführen waren.
    »Ist er gebrochen?« fragte sie gleich.
    »Ja, leider«, antwortete David. »Komm und sieh es dir an.«
    Er legte die Röntgenbilder auf den Lichttisch und zeigte auf die dunklen Linien des Bruches.
    »Hals- und Beinbruch« sagte man, und »knochentrocken« und »Knochenarbeit«.
    Aber Knochen waren etwas Lebendiges, sie konnten wachsen und heilen, sie konnten sich, entzweigebrochen, wieder zusammenfügen.
    »Ich war so achtsam mit den Bienen«, murmelte Norah, während sie ihm half, Paul zurück auf den Untersuchungstisch zu legen. »Den Wespen, meine ich. Ich habe das ganze Wespennest vernichtet, und jetzt das.«
    »Es war ein Unfall«, sagte David.
    »Ich weiß«, flüsterte sie, den Tränen nahe. »Das ist ja das Problem.«
    David antwortete nicht. Er hatte die Materialien für den Gipsverband herausgeholt und konzentrierte sich nun darauf, den Gips aufzutragen. Schon lange hatte er das nicht mehr selbst gemacht – für gewöhnlich richtete er den Knochen, und überließ den Rest der Krankenschwester; er fand die Arbeit beruhigend. Der Verband war weiß wie eine ausgeblichene Muschel und strahlte so wohltuend wie ein Blatt |206| Papier, während er um Pauls schmalen Arm gleichmäßig anwuchs. In wenigen Tagen würde er ein trübes Grau angenommen haben und mit leuchtenden Zeichen, den Graffiti der Kindheit, bedeckt sein.
    »Drei Monate muß er dranbleiben«, erklärte David. »Drei Monate, und du bist so gut wie neu.«
    »Das ist der ganze Sommer«, beschwerte sich Norah.
    »Was ist mit der Little League?« fragte Paul besorgt. »Und was mit dem Schwimmen?«
    »Kein Baseball«, erklärte David. »Und kein Schwimmen dieses Jahr. Tut mir leid.«
    »Aber Jason und ich sollen in der Little League spielen.«
    »Es geht leider wirklich nicht, Paul«, sagte David, als sein Sohn in Tränen ausbrach.
    »Du hast gesagt, es würde nichts passieren«, sagte Norah aufgebracht. »Und jetzt hat er sich mal eben so den Arm gebrochen. Er hätte sich auch den Hals brechen können oder die Wirbelsäule.«
    Auf einmal fühlte sich David sehr müde. Der Unfall hatte ihn aufgerieben, und er ärgerte sich über Norah.
    »Ja, das hätte geschehen können. Aber es ist nicht geschehen. Also hör auf, ja? Hör endlich damit auf, Norah!«
    Paul war still geworden und hatte, vom veränderten Klang und Rhythmus ihrer Stimmen alarmiert, aufmerksam zugehört. Was würde Paul von diesem Tag im Gedächtnis bleiben? fragte sich David. Wenn er sich die unsichere Zukunft ausmalte, der sein Sohn entgegenschritt, in einer Welt, in der man zu einer Demonstration gehen und mit einer Kugel im Genick enden konnte, teilte er Norahs Ängste. Sie hatte recht. Überall lauerten Gefahren. Er legte seine Hand auf Pauls Kopf.
    »Entschuldige, Papa«, bat Paul kleinlaut. »Ich wollte die Fotos nicht ruinieren.«
    Nach einem Moment der Verwirrung erinnerte sich David an sein Gebrüll, während Paul erstarrt neben der Tür stand.
    |207| »Aber nicht doch, Paul. Darüber bin ich doch nicht böse. Mach dir mal keine Sorgen.« Er strich seinem Sohn über die Wange. »Die Fotos sind völlig unwichtig. Ich war heute morgen nur müde, verstehst du?«
    Paul fuhr mit dem Finger am Rand des Gipsverbandes entlang.
    »Ich wollte dir keine Angst machen«, erklärte David. »Ich bin nicht wütend.«
    »Kann ich das Stethoskop haben?«
    »Klar.« David steckte die schwarzen Stöpsel des Stethoskops in Pauls Ohren und hockte sich hin. Die kühle Metallplatte legte er an sein Herz.
    Aus dem Augenwinkel sah er, wie Norah sie beobachtete. Außerhalb des glänzenden Festgeschehens legte sie eine Traurigkeit an den Tag, die sie wie einen dunklen Stein mit sich schleppte. Er sehnte sich danach, sie zu trösten, aber er wußte nicht, was er sagen sollte, und so wünschte er sich, mit einer Art Röntgenblick in das menschliche Herz sehen zu können; in Norahs und sein eigenes.
    »Ich wünschte, du wärst glücklicher«, sagte er sanft. »Ich wünschte, es gäbe etwas, was ich tun könnte.«
    »Du mußt dir keine Sorgen machen«, wehrte sie

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