Die Tochter des Fotografen
sich David auf dem Bett nieder, schlang die Arme um seinen Sohn und schlug das Buch über den »Neu gierigen Norbert« auf, der mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus lag. Unten ging Norah durch die Zimmer und räumte auf. Die Fliegengittertür schwang auf und zu, auf und zu. Er sah sie vor sich, wie sie durch diese Tür ging, im Kostüm, wie sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle ging und zu einem Leben, das ihn ausschloß. Es war spät am Nachmittag, und goldenes Licht erfüllte den Raum. Während er die Seiten umblätterte, drückte er Paul an sich. Ein leichter Wind bewegte die Vorhänge. Wie eine leuchtende Wolke schwebte der Hornstrauch vor den dunklen Brettern des Zauns. David hörte auf zu lesen und sah dem Fallen und Treiben der weißen Blütenblätter zu. Ihre Schönheit war tröstlich und gleichzeitig verstörend, und er versuchte den Gedanken zu verdrängen, daß sie aus der Entfernung wie Schneeflocken aussahen.
|211| 10. Kapitel
Juni 1970
P HOEBE HAT DEIN HAAR«, BEMERKTE DORO.
Nachdenklich befühlte Caroline ihre Nackenwirbel. Sie befanden sich im Osten von Pittsburgh in einem alten Fabrikgebäude, das jetzt eine fortschrittliche Vorschule beherbergte. Durch hohe Fenster flutete das Licht und sprenkelte den Dielenboden. Es erfaßte auch die rötlichbraunen Strähnchen in Phoebes dünnen Zöpfen und brachte sie zum Leuchten. Phoebe stand vor einer großen Holzkiste, aus der sie Linsen schöpfte und in Gläser prasseln ließ. Sie war pummelig, hatte kleine Grübchen an den Knien und ein gewinnendes Lächeln. Ihre Hände waren klein, und ihre leicht mandelförmigen Augen liefen schräg nach oben; sie waren von einem dunklen Braun. Heute trug sie ein rosa-weiß gestreiftes Kleid, das sie sich selbst ausgesucht und angezogen hatte – verkehrt herum. Außerdem hatte Caroline auf einem rosa Pulli bestanden, was zu Hause einen spektakulären Wutanfall ausgelöst hatte. »Auf jeden Fall hat sie dein Temperament.« Leo, der nun schon fast ein Jahr tot war, hatte das gern vor sich hin gemurmelt und Caroline damit immer wieder in Erstaunen versetzt. Es hatte sie weniger gewundert, daß er eine genetische Verbindung sah, wo keine bestehen konnte, sondern daß jemand sie als temperamentvolle Frau bezeichnete.
»Meinst du?« fragte sie Doro, während sie ihre Finger durch das Haar hinter ihren Ohren gleiten ließ. »Glaubst du wirklich, daß sie meine Haare hat?«
»Aber natürlich.«
Phoebe stieß ihre Hände gerade tief in die samtigen Linsen und lachte zusammen mit dem kleinen Jungen neben ihr. |212| Ganze Hände voll hob sie in die Luft und ließ sie durch ihre Finger rinnen, während der Junge eine gelbe Plastiktasse darunterhielt, um sie aufzufangen.
Für die anderen Kinder in der Vorschule war Phoebe einfach Phoebe. Eine Freundin, deren Lieblingsfarbe Blau war, die Eis am Stiel mochte und es liebte, sich im Kreis zu drehen. Hier spielte ihr Anderssein keine Rolle. In den ersten Wochen hatte Caroline alles ängstlich beobachtet und sich gegen die Kommentare gewappnet, die sie allzuoft zu hören bekam, wenn sie auf dem Spielplatz, im Lebensmittelgeschäft oder beim Arzt waren. »Oh, was für ein Unglück, das wünscht man ja nicht einmal seinem ärgsten Feind.« Und einmal: »Na, wenigstens wird sie nicht sehr lange leben, zum Glück.«
Ob sie aus Gedankenlosigkeit, Ignoranz oder Grausamkeit ausgesprochen wurden, machte keinen Unterschied; über die Jahre hatten diese Bemerkungen eine offene Wunde in Carolines Herz hinterlassen. Hier aber waren die Lehrer jung und engagiert, und die Eltern waren ihrem Beispiel einfach gefolgt: Phoebe hatte vielleicht mehr zu kämpfen und würde länger brauchen, um etwas zu lernen, aber schließlich würde sie es wie jedes Kind schaffen.
Linsen stoben am Boden auseinander, als der Junge seine Tasse fallen ließ und in den Flur rannte. Phoebe folgte ihm mit fliegenden Zöpfen in Richtung des grünen Raumes, der mit Staffeleien und Farbtöpfen ausgestattet war.
»Dieser Ort tut ihr so gut«, stellte Doro fest.
Caroline nickte. »Ich wünschte, das Schulamt könnte sie hier sehen.«
»Du hast ein starkes Argument, Caroline. Und einen guten Anwalt. Damit wirst du durchkommen.«
Sie blickte auf die Uhr. Aus ihrer Freundschaft zu Sandra hatte sich eine politische Kraft entwickelt, und heute würde die Upside Down Society – wie sich die Gesellschaft zur Förderung von Menschen mit Downsyndrom nannte, die mittlerweile fünfhundert Mitglieder zählte – die Schulbehörde
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