Die Tochter des Ketzers
Angst herrschte, ob der Untergang der katharischen Kirche und letztlich auch der okzitanischen Kultur für die Mehrheit der Bevölkerung alltagsprägend war oder ob das für die Menschen bereits Vergangenheit war, sich diese – nicht zuletzt nach den Restitutionsprozessen unter Louis IX. – längst für einen Neuanfang gerüstet hatten. Vieles von dem, was ich beschreibe – auch die französische Willkür gegen vermeintliche Katharer, wie sie Pèire de Mont-Poix trifft –, gehört eher in den Bereich »so könnte es gewesen sein« als »so ist es gewesen«.
Das andere Problem, das sich stellte: Die Handlung meines Romans umfasst ein halbes Jahr, also eine relativ kurze Zeitspanne. Alle politischen Ereignisse, wie ich sie beschreibe oder andeute, haben eine komplexe Vorgeschichte und sind – wie z.B. der Krieg zwischen Aragón und Frankreich – nicht zu Ende gebracht. Mein Blick auf die Geschichte ist in diesem Buch folglich ein sehr punktueller, bei dem ich vieles vereinfachen und mich zudem für eine Fokussierung auf bestimme Aspekte entscheiden musste: Genua und Pisa z.B. sind nicht die einzigen Stadtstaaten, die sich ständig bekriegten; Amalfi, Venedig, Florenz u.v.a. spielen ebenfalls eine wichtige Rolle beim Kampf um die Vormachtstellung im Mittelmeer, sind in meinem Buch jedoch so gut wie gar nicht erwähnt. Ebenso musste ich manches interessante Detail – z.B. rund um Persönlichkeiten wie Pere von Aragón oder Ruggiero di Loria – auslassen, historische Fakten also relativ »nackt« belassen, um den Erzählfluss nicht zu überfrachten. Auf der anderen Seite freilich waren es gerade solche Details bzw. »Fußnoten« der Geschichte, die sich als konstituierend für die Handlung herausgestellt haben: So waren bei der Besetzung der nordafrikanischen Stadt Collo durch Pere von Aragón tatsächlich pisanische Kaufleute zugegen, die mit der muslimischen Bevölkerung verhandelten. Auf diese Weise konnte ich sehr ereignisgetreu das Schicksal von Gaspare mit dem von König Pere verknüpfen.
Auch in diesem Kontext wird relevant, was ich schon beim Katharismus erwähnte – die Schwierigkeit nämlich, dass man meist ausführlich von den Taten der Kriegsherren weiß, wenig jedoch, wie das gemeine Volk diese erlebte. Der Verlauf der Schlacht von Meloria ist ausführlich belegt; klar ist auch, dass damit Korsika an die Genuesen fiel. Doch die Lebensbeschreibung des korsischen Fischers, der in Aleria lebte und diesen Herrschaftswechsel hautnah miterlebte, gibt es nicht. Um diese »rohen« Fakten in eine Geschichte einzubetten, musste ich oft auf meine Fantasie zurückgreifen anstatt auf Quellen.
Von den vielen historischen Persönlichkeiten, die zeitgleich mit meinen Protagonisten lebten, konnte ich eine leider nur andeuten: Marco Polo, der erst später – nämlich um 1295 – von seiner langen Reise in den Fernen Orient nach Venedig zurückkehrte. Freilich zeigt gerade der Blick auf diesen ein Charakteristikum jener Zeit: die Unsicherheit, die sich aufgrund sich rasch ändernder Herrschaftsverhältnisse und damit einhergehender kriegerischer Auseinandersetzungen ausbreitete und die oft eine Basis für den Aufbruch in neue Welten schuf. Der Verlust von Gewissheiten, die Bewältigung von Zerstörung und die Reise in die Fremde waren also das, was das Leben vieler Menschen dieser Zeit prägte und was die Geschichte meiner Protagonisten ausmacht, die die Welt – getreulich dem Augustinus-Zitat, das ich diesem Buch vorangestellt habe – von so vielen unterschiedlichen Seiten erleben.
Zeittafel
Römisches Reich und Urchristentum
ca. 30:
Jesus Christus stirbt in Jerusalem den Kreuzestod. Kurz darauf verkünden seine Jünger seine Auferstehung.
ca. 33:
Stephanus stirbt als erster Jünger den Märtyrertod.
50-64:
Briefe/Missionierung des Apostel Paulus
64 :
Christenverfolgung unter Nero, Tod der Apostel Petrus und Paulus. In den nächsten Jahrhunderten folgen weitere Christenverfolgungen (z.B. unter Kaiser Domitian 81-96, Trajan 98-117, Severus 193-211 u.v.a.)
bis ca. 100:
Die Schriften des Neuen Testaments werden vollendet.
244-249:
Philippus I. (genannt »der Araber«, »Arabs«) ist römischer Kaiser. Er gilt als den Christen gegenüber sehr tolerant.
248:
Cyprian, einer der großen Kirchenlehrer, wird Bischof von Carthago.
249-251 :
Decius ist römischer Kaiser. Er lässt sich noch zu Philippus Arabs’ Lebzeiten dazu ausrufen und besiegt diesen bei Beoae.
Herbst 249:
Ein allgemeines »Opferedikt« wird
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