Die Tochter des Königs
stehen. »Ich glaube, das ist eines der Gebäude, das es zu Eigons Zeit schon gab«, sagte Jess langsam. »Irgendwo hier muss sie mit ihrem Vater vor Claudius gestanden haben.«
William holte seine Kamera heraus. »Dann ist der Tempel also zweitausend Jahre alt?«
»Älter. Ich glaube, im Buch steht, dass es noch aus der Zeit vor Christi Geburt stammt.« Sie nahm die Tasche von der Schulter und holte den Führer heraus, schob die Sonnenbrille
hoch, während sie in den Seiten blätterte. »Es ist schwer, sich das Alter dieser ganzen Ruinen vorzustellen.« Sie schaute kurz zu William. »Es ist alles sehr verwirrend, die Überreste so vieler verschiedener Epochen, die kunterbunt durcheinanderstehen. Ich glaube, die meisten Gebäude hier sind zu neu, um für mich interessant zu sein.« Sie lächelte. Mittlerweile war es schon wieder heiß, die Luft staubig, das Gewitter war nur noch eine ferne Erinnerung.
»Du meinst, nur neunzehnhundert Jahre alt?« William machte ein paar Aufnahmen der hohen Säulen. Eine Nebelkrähe flog herüber, ließ sich auf dem marmornen Architrav nieder und schaute zu ihnen hinunter. William steckte die Kamera wieder fort. »Jess, dieses ganze römische Zeug, Eigon.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist alles ziemlich seltsam. Als wir … als du und ich zusammen waren, hast du nie von Gespenstern geredet.«
»Da hatte ich auch noch keins gesehen«, rechtfertigte sie sich. »Ich kann verstehen, dass du mir nicht glaubst, William. Schließlich hast du ja nichts gesehen. Was ich nicht verstehen kann, ist, dass du mir wegen Daniel nicht glaubst. Und das tust du nicht, jedenfalls nicht ganz. Ich hätte wirklich erwartet, dass du bei der Sache hinter mir stehst.« Sie drehte sich fort, plötzlich fürchtete sie, gleich in Tränen auszubrechen, und ging zwischen den vielen Touristen davon.
William lief ihr nach. »Jess! Warte!« Die Menge teilte sich, um die beiden durchzulassen. Ein Streit zwischen Liebenden war den Touristen im Moment völlig gleichgültig, sie konzentrierten sich weiter auf die Sehenswürdigkeiten.
William holte Jess ein. »Ich möchte wissen, weshalb er das getan hat.«
»Woher soll ich das wissen.« Wütend drehte sie sich zu ihm. »Niemand kann das wissen.«
Er musterte sie eindringlich. »Wenn Daniel dich vergewaltigt hat, Jess, dann muss ich ihn umbringen.«
Sie zögerte, im ersten Moment glaubte sie fast, was er da sagte. Dann lachte sie kurz und hässlich auf. »Nein, bitte nicht, William. So weit brauchst du nicht zu gehen. Ich komme schon allein zurecht.«
»Aber allem Anschein nach nicht besonders gut.« Er packte sie an den Armen und zwang sie, ihn anzusehen. »Jess, weißt du, du bist mir immer noch wichtig. Eine Beziehung, wie wir sie hatten, du und ich - die geht nicht einfach vorbei, ohne dass etwas zurückbleibt.«
Sie schob ihn von sich. »Das weiß ich, aber ich will nicht, dass du auf einem Streitross davongaloppierst, um meine Ehre zu ver…« Mit einem kleinen Aufschrei brach sie ab.
»Was ist?« William wirbelte herum und folgte ihrem Blick.
»Daniel!«, flüsterte sie. »Da. Er beobachtet uns.«
»Wo?« William sah sich suchend um.
»Da!« Sie deutete auf eine Treppe ganz in der Nähe.
William rannte die Stufen hinauf und drehte sich um, um die Menschenmenge abzusuchen. Schwitzende Touristen in Sommerkleidern und bunten Hemden, mit Sonnenhüten und dunklen Brillen, Wasserverkäufer, Stadtführer. Die Menschenscharen strömten als unentwegter Strudel zwischen den Säulen und Ruinen des Forums. »Ich kann ihn nicht sehen. Wo war er?«
»Genau da, wo du stehst.«
»Bist du sicher, dass er es war?« William ließ weiter den Blick schweifen.
Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern. »Ich habe ihn nur flüchtig gesehen. Er hatte eine Sonnenbrille auf. Vielleicht habe ich mich auch getäuscht.« Plötzlich war sie wütend auf sich selbst, dass sie so jämmerlich und lächerlich
klang. »Ich bin sicher, dass er mir folgt, William. Ich glaube nicht, dass er nach England zurück ist. Er hat mir gedroht. Er will mich einschüchtern.«
William nickte. »Das glaube ich dir aufs Wort.« Er seufzte schwer und sah sich dann wieder um. »Aber wer immer es war, er ist weg. Ich schlage vor, dass wir uns irgendwo hinsetzen und etwas Kaltes trinken. Es wird einfach zu heiß. Gibt es irgendwo noch ein überdachtes Gebäude, das Eigon kannte, oder möchtest du lieber zum Palazzo zurück und dich da ein bisschen ausruhen?«
Eigon stand im Atrium. In der
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