Die Tochter des Königs
einem Krafttier hatte sie noch nie etwas gehört. Sie hätte besser zuhören sollen. Sie war wirklich dumm gewesen. Besessen von dem Gedanken, mit Eigon zu reden, hatte sie Angst gehabt, sie würde sie ausschließen, wenn sie sich selbst schützte. Und jetzt war sie mit dem bösartigen Mörder ganz allein hier im Zimmer, war ihm schutzlos ausgeliefert. Aber dann kam ihr schlagartig der Gedanke. Natürlich! Es hatte in ihrem Leben ein Tier gegeben, das jedes von Carmella genannte Kriterium erfüllte.
»Hugo!« Es war ein Hilfeschrei, sie rief nach dem Hund, den sie als Kind geliebt hatte, den großen zotteligen Briard
ihrer Mutter, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihr und Stephs Bewacher, Mentor und Beschützer zu sein. Und tatsächlich war er plötzlich bei ihr, ein Wirbelwind schwarzer Schatten, seine Krallen klickten auf dem Boden vor dem Fenster, und Titus war fort.
Weinend ließ Jess sich aufs Bett fallen. Auf einmal war es wieder ganz still im Raum. Sie spürte einen leisen Druck am Bein, das Gewicht eines Hundes, der sich zufrieden an ihre Wade schmiegte, dann war er wieder fort.
Von der Treppe draußen hörte sie laufende Schritte. »Signorina? Ist alles in Ordnung? Signorina Jess, bitte machen Sie auf!« Wankend stand sie auf, drehte mit zitternden Händen den Schlüssel und öffnete die Tür.
Vor ihr stand Margaretta, ihre Hauswirtin. »Fehlt Ihnen etwas?« Sie schaute sie aus aufgerissenen Augen an. »Sie haben gerufen. Ich habe Sie unten gehört.«
Jess nickte und lachte verlegen, während sie ein Taschentuch hervorkramte. »Entschuldigen Sie, ich habe geschlafen. Ich habe von dem Hund geträumt, den meine Mutter hatte, als ich ein Kind war. Ich dachte, er wäre mit mir hier im Raum.«
»Dio!« Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Sie haben geschlafen, deswegen haben Sie mich vorhin nicht gehört!«
»Sie gehört?«
Margaretta nickte. »Es war Ihre Schwester. Sie sagte, Sie würden Ihr Handy nicht beantworten. Sie sagte, es sei dringend.«
»Ich muss wirklich sehr müde gewesen sein, wenn ich nichts gehört habe. Ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen, entschuldigen Sie.« Jess zuckte mit den Schultern.
Misstrauisch schaute die Frau ins Zimmer, dann trat sie zurück. »Wenn wirklich alles in Ordnung ist - rufen Sie sie dann gleich an?«
»Ja, natürlich.« Irgendwie gelang es Jess zu lächeln, während sie die Tür sanft vor Margarettas Nase schloss. Sie hatte nicht vor, Steph anzurufen. Das Zimmer hinter ihr war leer.
Daniel fuhr an den Straßenrand. Ihm war etwas übel. Er wusste gar nicht mehr, wie lange er schon am Steuer saß und wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Der Drang, immer weiterzufahren, war zu stark, trieb ihn unerbittlich nach Rom zurück. Und auch das Bild in seinem Kopf war unerbittlich. Er musste Eigon finden. Kopfschüttelnd umklammerte er das Lenkrad. Nicht Eigon, Jess. Er musste Jess finden. Wenn er das mit Jess nicht auf die Reihe brachte, würde sie ihn vernichten. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wenn sie erst einmal in der Sänfte saß, würde niemand sie sehen. Die Sklaven würden es nie wagen, ihn aufzuhalten und zu befragen. Er würde wieder eine Droge verwenden, wie damals. Er griff in seine Tasche und spürte das Glasfläschchen mit den Tropfen. Sie würde nichts merken. Sie würde keine Angst haben, würde nichts spüren. Danach würde er sie irgendwo liegen lassen, und bis sie gefunden wurde, wäre er schon längst über alle Berge. Aber da war jetzt wieder die Stimme, die ihm unablässig zusetzte. Du lässt sie nicht einfach liegen, vorher vergnügst du dich noch mit ihr. Und beim letzten Mal hat’s dir doch Spaß gemacht, oder vielleicht nicht? Sie hilflos daliegen zu sehen. Die Angst in ihren Augen. Das ist es doch, was du willst, oder nicht?
Daniel fuhr sich mit dem Handrücken über das schweißnasse Gesicht. Warum konnte die Stimme ihn nicht in Frieden lassen? Der verrückte, sadistische Kerl war ständig in seinem Kopf. Er konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen, immer funkte ihm der andere dazwischen.
Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad. Einen Moment legte er die Stirn auf die Hände und atmete tief durch. Es war sowieso egal. Er wusste nicht, wo Eigon - wo Jess - war. Sie hatten sie irgendwo versteckt oder nach England zurückgebracht. Oder wieder nach Ty Bran.
Er runzelte die Stirn. War sie in die kalte, nebelfeuchte Ferne zurückgekehrt? Nach Britannien? Die Stationierung, vor der
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