Die Tochter des Königs
Telefon mit Ihnen sprechen. Sind Sie da?« Eine kurze Pause. »Signorina?« Wieder einige Sekunden Stille, gefolgt vom Klappern der Sandalen, als die Frau die Treppe hinunterlief.
Jess wurde etwas unruhig, hörte aber nichts. In ihrem Kopf war sie jetzt in der Villa, war durch den dunklen Eingang ins Atrium getreten, das durchflutet war von der Sonne, die durch die Dachöffnung direkt über dem Brunnen hereinströmte. Sie ging weiter zu Eigons Räumen, trieb wie ein Schatten durch den verwaisten Empfangsbereich zu einem Korridor mit einer Bank, auf der einige der Patienten warteten, bis sie in Eigons Kräuterkammer gerufen wurden.
Eigon sah müde aus. Irgendwie war Jess durch die Tür getreten, stand jetzt mit ihr in der Kräuterkammer und beobachtete sie. Eigon verband gerade die Entzündung am Arm eines kleinen Jungen, der sich weinend unter dem Rock seiner Mutter verstecken wollte. Die Frau sah ärmlich aus. »Ich weiß nicht, warum er das immer wieder macht!«, sagte sie hilflos. »Ich habe ihm verboten, die Mauer hinaufzuklettern, und ich sage ihm immer wieder, dass er vorsichtiger sein soll.«
Eigon lächelte, ohne aufzuschauen, konzentrierte sich ganz auf das Verbinden der Wunde. »So sind Jungen nun mal. So, jetzt geht’s dir gleich besser.« Sie tätschelte dem Kind den Kopf. »Ich gebe dir eine Tinktur für die Wunde mit, Cilla. Sorg dafür, dass kein Schmutz hineinkommt, sonst heilt sie nicht.«
Als die Frau gegangen war, blieb sie einen Moment stehen und legte sich seufzend die Hände auf den Rücken. Sie war immer noch schön, immer noch jung, aber sie umgab eine Schwere, die von ihrer Erschöpfung stammte.
»Eigon!«, sagte Jess eindringlich. »Eigon, kannst du mich hören? Du musst mich hören. Titus ist ganz in der Nähe. Er wird bald kommen und dich entführen. Er will dich umbringen. Bitte, bitte, hör mir zu!«
Eigon richtete sich auf und sah sich verwundert um. »Ist da jemand?«
»Ja!« Jess war überglücklich. »Eigon, du kannst mich verstehen! Jetzt hör mir zu!«
Kopfschüttelnd fasste Eigon sich an die Stirn. »Glads?«
Also dachte sie immer noch an ihre kleine Schwester. Vielleicht hörte sie immer noch die einsame Stimme aus ihrer Kindheit. Wieder schaute sie sich um, dann ging sie zur Tür und bedeutete dem nächsten Patienten einzutreten.
Jess stöhnte. »Nein, bitte nicht! Bitte, hör mir…«
»Schsss!«
Das plötzliche Zischen im Ohr ließ Jess zusammenfahren. »Hör auf! Lass sie in Ruhe! Ich weiß genau, was du vorhast!« Das barsche, heisere Flüstern ging im staubigen Echo fast unter.
Benommen richtete Jess sich auf und sah sich panisch um. Das Flüstern war so nah gewesen, dass es noch in ihrem Kopf nachhallte, doch das Zimmer, ihr Zimmer in der Pension, war leer. Einer der Fensterläden war aufgeschwungen, ein breiter Streifen Sonnenlicht fiel auf den Teppich zu ihren Füßen. Die Atmosphäre war dicht, lautlos, stickig. Jess legte die Hand auf die Brust, schluckte schwer und spürte, wie heftig ihr Herz klopfte. Sie hatte einen trockenen Mund. Die Tür zur Vergangenheit war geschlossen, sie konnte Eigon nicht mehr sehen, aber sie spürte, dass jemand mit ihr im Zimmer war. Sie versuchte sich zu sammeln, tastete sich rückwärts zur Tür vor. »Wer ist da?« Vor Angst wurde ihre Stimme schrill. »Was willst du von mir?«
Sie starrte in die Sonnenstrahlen, in denen Staubpartikel tanzten. War das eine Gestalt, die kurz dort stand, vage Umrisse, die sich sofort wieder auflösten?
»Titus?« Jess hauchte das Wort nur, doch sofort veränderte sich die Atmosphäre, als stünde das Zimmer plötzlich unter elektrischer Spannung. Dazu kam ein Gefühl von Enge im Kopf, als würde ihr jemand ein Stahlseil um die Stirn spannen.
Schütz dich, Jess. Das darfst du nie vergessen. Und denk daran, du darfst seinen Namen nicht aussprechen. Nie! Du darfst ihn nicht einmal denken! Von irgendwoher tauchten Carmellas Worte in ihrem Kopf auf. Christliche Gebete helfen da nicht weiter. Carmella war auch keine Kirchgängerin. Du musst ihm mit seinen eigenen Göttern entgegentreten!
»Verschwinde im Hades, aus dem du gekommen bist, du gemeiner Mörder!« Jess’ Stimme war heiser.
Umgib dich mit Licht. Sorge dafür, dass du immer in deinem eigenen Bereich bleibst. Umgib dich mit Begleitern und Engeln. Beschwöre dein Krafttier. Wen immer du als inneren Freund siehst, bitte ihn, dich zu beschützen!
Jess ballte die Fäuste. Sie hatte keine inneren Freunde und keine Begleiter, und von
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