Die Tochter des Königs
tastete sich zwischen mit Flechten bewachsenen Baumstämmen vor, schützte ihre Augen mit dem Arm vor zurückschlagenden Zweigen.
Endlich hatte sie den Zaun am Waldrand erreicht. Vorsichtig ging sie ihn entlang, bis sie die Holzbretter des Zauntritts unter den Fingern spürte, stieg hinüber und blieb kurz stehen, um zu Atem zu kommen. Die Wolken hatten sich verzogen, die Nacht war sternenklar. Am Horizont war noch ein grünlicher Strich zu sehen, das letzte Licht der untergegangenen Sonne. Weit hinter ihr flog mit ohrenbetäubendem Lärmen ein Fasan aus den Bäumen auf. Jess hielt die Luft an. Irgendetwas hatte den Vogel da oben im Wald aufgestört. Sie lauschte, ihre Finger umklammerten die oberste Stange des Zauntritts.
Togo? Wir spielen jetzt nicht mehr. Wo bist du?
Die Stimme hallte leise durch die Bäume, war kaum mehr als ein Hauch im Wind.
Das Moos unter Jess’ Fingern war feucht, sie spürte seine samtige Wärme unter den Fingernägeln. Einen Moment war sie vor Angst wie gelähmt, dann atmete sie tief durch und machte sich auf den Weg. Die Wiese war uneben und mit Steinen übersät, hier und dort versteckten sich zwischen dem Gras kleine Schlammpfützen, in denen sie ausrutschte.
Sie fühlte sich völlig schutzlos, während sie die Wiese überquerte, aber zumindest konnte sie im Sternenlicht etwas sehen. Auf der anderen Seite war sie wieder im Schutz der
der Dunkelheit. Die Äste einiger Eschen warfen tiefe Schatten auf den Feldrand. Vorsichtig ausschreitend ging sie auf die Feldeinfahrt zu.
Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, ehe sie endlich Cwm-nant erreichte. Völlig erschöpft schob sie das schwere Tor auf und ging in den Hof. Im Farmhaus brannte kein Licht. Als sie an der hinteren Tür klopfte, wurde ihr bewusst, dass die Hunde nicht da waren. Ebenso wenig wie Rhodris Wagen.
»O nein!« Sie klopfte wieder, hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz. »Bitte, bitte, sei da!«
Aber sie wusste, dass er abgereist war. Sie kam zu spät. Zu müde, um noch einen Schritt zu gehen, sank sie vor der Tür zusammen, Tränen der Verzweiflung und der Erschöpfung liefen ihr über die Wangen.
Nach einer ganzen Weile rappelte sie sich auf und ging ums Haus in der Hoffnung, irgendwo stünde eine Tür oder ein Fenster offen. Aber Rhodri hatte alles gewissenhaft verriegelt. Jess tastete sich zu einer Scheune auf der anderen Seite des Hofs vor, und dort fand sie ein paar Säcke, mit denen sie sich zudecken konnte. Dann überwältigte sie die Müdigkeit. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass Daniel sie hier wenigstens nicht finden würde.
Kapitel 8
I n Rom war es ein sonniger Morgen und schon sehr heiß. Einen Moment stand Steph am offenen Fenster und schaute auf die Straße hinunter, dann schloss sie seufzend die Fensterläden vor der Hitze. Barfuß und noch in ihrem weißen Baumwollnachthemd ging sie den Flur entlang zur Küche. »Ich habe nochmal versucht anzurufen. Die Leitung ist immer noch tot«, sagte sie zu Kim. »Jetzt rufe ich bei der Polizei an.«
»Meinst du nicht, dass das ein bisschen übertrieben ist? Ruf doch bei einem Nachbarn an. Sie haben doch bestimmt nichts dagegen, jetzt, wo du sie nicht mehr aus dem Schlaf reißt.« Kim goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein, dann besann sie sich und schenkte auch Steph eine ein. »Du machst dir zu viele Sorgen, Steph.« Sie strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Mein Gott, deine Schwester ist eine erwachsene Frau!«
Steph setzte sich Kim gegenüber an den Tisch und griff nach ihrem Kaffee. »Ich weiß. Und wenn sie davon erführe, würde sie ausrasten. Aber … ich habe einfach ein mulmiges Gefühl. Vor allem nach gestern Abend.«
»Hast du bei den Prices angerufen?«
Steph nickte. »Keine Antwort. Was mir seltsam vorkommt. Irgendjemand muss sich doch um die Tiere kümmern.«
»Kennst du sonst niemanden dort?«
»Doch, natürlich.« Steph lachte.
»Dann ruf doch die an. Um dich zu beruhigen.«
Eineinhalb Stunden später rief Sally Lomax bei Steph in Rom zurück. »Nur, um dir zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Ich sitze im Wagen vor Ty Bran und habe gerade mit einem netten Typen gesprochen, William heißt er, der sagte, er würde Jess besuchen. Sie wissen, dass das Telefon nicht funktioniert, und haben den Schaden gemeldet. Ich habe Jess zwar nicht gesehen, aber ihr Auto steht hier, und er meinte, er würde ihr sagen, dass sie dich heute Abend anrufen soll. Hoffentlich beruhigt dich das.«
»Siehst du!«, meinte Kim
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