Die Tochter des Königs
einzige Hoffnung, eine andere fiel ihr nicht ein.
Eine halbe Stunde später riss Daniels Stimme sie aus dem Halbschlaf. Es klang, als würde er kauen. »Ich habe mir erlaubt, mir ein kleines Frühstück zu richten. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Möchtest du auch etwas? Einen Kaffee? Eine Scheibe Toast? Mittlerweile hast du doch bestimmt auch Hunger.«
Sie verzog das Gesicht. »Danke, Daniel, alles bestens.«
»Wann, sagtest du, würde Rhodri kommen?« Er klang amüsiert.
»Bald.«
»Dann werde ich ihn empfangen.«
Mist! Was sollte sie jetzt tun?
Im Bad gab es Wasser zu trinken, und eine Weile konnte sie gut ohne Essen auskommen. Momentan war ihr sowieso nicht danach, dafür hatte sie viel zu große Angst. Sie würde einfach so lange ausharren, bis er verschwand.
Sie versuchte zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Also zeichnete sie ein bisschen, war froh, dass sie einen kleinen Skizzenblock auf dem Nachttisch liegen gelassen hatte. Nach einer Weile döste sie ein. Als sie wieder aufwachte, waren zwei Stunden vergangen. Sie stand auf und ging zur Tür. »Daniel? Bist du noch da?«
»Aber natürlich, Schätzchen. Ich bin noch da.«
»Wollte mich nur vergewissern!« Sie zwang sich zu einem Lachen.
Es war fast dunkel, als sie endlich seine Schritte draußen im Hof hörte. Schwindelig vor Hunger und Anspannung lief sie zum Fenster und duckte sich gerade rechtzeitig hinter den Vorhang, ehe er sich umdrehte und das Haus betrachtete. Offenbar hatte er sie nicht bemerkt, wenige Sekunden später ging er weiter auf das Tor zu. Wohin wollte er? Warum gab er auf? Jess verschwendete keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Schnell zog sie einen Pullover über ihre Bluse, schlüpfte in ihre Schuhe, lief zur Tür und schob den Riegel auf. Wenige Sekunden später war sie in der Küche und schloss mit zitternden Händen die Tür auf. Dann rannte sie hinter das Atelier, damit sie von der Vorderseite des Hauses nicht zu sehen war, und weiter über den Rasen zur Hecke.
Sie zwängte sich durch eine Lücke und stand auf der Weide, blutig zerkratzt vom Weißdorn und den Brombeeren. Panisch lief sie weiter, um außer Sichtweite des Hauses zu kommen, und hatte wenig später den Schutz der Bäume erreicht. Mühsam versuchte sie, ihren keuchenden Atem zu
beruhigen, und horchte, ob Daniel ihr folgte. Hatte er sie gesehen? Er konnte doch nur fortgegangen sein, um sie aus ihrem Zimmer zu locken, oder nicht? Aber sie hörte nur den Wind in den Baumwipfeln und den unverkennbaren Ruf der Eule. Im Tal unter ihr war es schon dunkel.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, ehe sie sich zu bewegen wagte. Hinter den Bäumen färbte sich der Himmel blutrot, durchsetzt mit grünlichen Streifen, die Berge hoben sich als dunkle Silhouette davor ab. Vorsichtig ging Jess durch die Bäume auf das Haus zu, kniff die Augen zusammen, um in der hereinbrechenden Dunkelheit etwas zu erkennen, bis sie mit einem unterdrückten Aufschrei direkt unter sich Daniels Auto sah. Es hob sich deutlich vom dunklen Feldweg ab. Sie war viel näher am Haus, als sie gedacht hatte. Und Daniel war eindeutig noch da. Irgendwo. Damit zerschlug sich ihre Hoffnung, er könnte aufgegeben haben und fortgefahren sein. So leise wie möglich zog sie sich wieder in die Bäume zurück. Und was jetzt? Sie hatte nur eine Möglichkeit: Sie musste versuchen, über die Felder zu den Prices zu gelangen, und hoffen, dass Rhodri noch da war.
Skeptisch schaute sie zwischen den Baumwipfeln zum Himmel. Im Nordwesten leuchtete er noch ein wenig, doch zwischen den Bäumen färbte er sich bereits pechschwarz, die Sonne sank hinter die Berge, nur die obersten Zweige der Bäume ganz oben auf den Gipfeln glühten noch rot. Jess warf einen Blick zurück. Folgte Daniel ihr, oder war er wieder ins Haus gegangen, um auf sie zu warten? Sie traute sich nicht, zurückzugehen und nachzusehen.
Den ganzen Tag hatte sie Rhodri mit seinen breiten Schultern und seiner tiefen, sonoren Stimme vor sich gesehen und wider alle Vernunft gehofft, sie könnte ihn allein durch die Kraft ihrer Gedanken nach Ty Bran locken. Er war nicht gekommen, aber wenn sie ihn darum bat, würde er ihr helfen.
Allein durch seine Anwesenheit würde er sie vor dem Wahnsinnigen in ihrem Haus beschützen.
Schaudernd sagte sie sich, dass sie nicht länger warten durfte. Also machte sie sich vorsichtig an den Abstieg die steile Böschung hinab, schlitterte durch das weiche, halb verrottete Laub, hielt sich an Zweigen fest,
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