Die Tochter des Königs
griff sein Vorwand nicht mehr. Bei dem Gedanken lächelte sie bitter. Sie würde auf jeden Fall nicht warten, bis er zurückkam. Ihm musste klar sein, dass sie anderen Leuten von seinen Drohungen erzählt hatte. Oder wollte er sich herauslügen und allen weismachen, dass sie durchgedreht war? Er hatte Recht, es gab keinen Beweis für das, was passiert war, ob nun für seine Drohungen gestern oder die Sache in London. Keinen einzigen Beweis. Dafür hatte sie schon selbst gesorgt. Sie hatte niemandem davon erzählt. Unglücklich ging sie auf und ab, mit halbem Ohr hörte sie die Amsel oben auf dem Dach singen. Der Gesang tröstete sie ein wenig.
Wo bist du?
Unvermittelt trieben die Worte zum Fenster herein, eine Kinderstimme aus weiter Ferne.
Jess schauderte.
Wo bist du? Lass mich nicht allein!
»O mein Gott, das halte ich nicht mehr aus!« Kurz entschlossen drehte sie sich zur Tür.
Ihre Handtasche, die Daniel durchwühlt hatte, lag auf dem Küchentisch. Jess warf einen Blick hinein. Dort war ihr Handy, er hatte es hineingelegt. Und ihr Pass steckte in der Seitentasche. Er hatte nichts mitgenommen. Auf Stephs Liste mit Notrufnummern fand Jess den Namen eines Handwerkers. Sie griff zum Hörer, um ihn anzurufen und zu bitten, das Fenster zu reparieren. Aber die Leitung war immer noch tot. Und der Akku ihres Handys war nach wie vor leer, Daniel hatte es vom Ladegerät getrennt. Fluchend riss sie den Zettel mit der Nummer ab und stopfte ihn in ihre Tasche. Sie machte einen letzten Rundgang durchs Erdgeschoss, um sich zu vergewissern, dass sie auch nichts vergessen hatte, steckte dabei noch Rhodris CDs ein, dann verließ sie das Haus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie sperrte das Auto auf und zog einen der Koffer zu sich. Ein paar Sachen musste sie mitnehmen. Sie würde sie in eine kleine Tasche packen und ins Dorf schleppen, und dort würde sie jemanden finden, von dessen Telefon aus sie anrufen konnte. Eigentlich war es überflüssig, noch einmal zu probieren, ob der Wagen startete, aber sie versuchte es trotzdem.
Er sprang sofort an. Schluchzend vor Erleichterung zog sie die Fahrertür ins Schloss und fuhr langsam zum Hof hinaus. Sobald sie den Weg erreichte, trat sie aufs Gas. Wenn Daniel doch noch irgendwo in der Nähe war und sie aufzuhalten versuchte, wollte sie so schnell an ihm vorbeifahren, dass er sie unmöglich einholen konnte. Schlingernd und ächzend holperte der Wagen über die Schlaglöcher, aber dem Motor schien nichts zu fehlen. Jess warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Sonne spiegelte sich glitzernd in den Pfützen, fiel schräg durch die Zweige und warf ein Spinnennetz von Schatten auf die tiefen Furchen.
»Lebt wohl, Eigon, Glads, Togo«, flüsterte sie.
Sie bekam keine Antwort.
Sie blieb erst stehen, als sie im nächsten Ort die Werkstatt erreichte, wo ein zuvorkommender Mechaniker innerhalb weniger Minuten den Wackelkontakt entdeckt hatte. Eine halbe Stunde später hatte Jess getankt, sich ein paar Sandwiches gekauft und den Handwerker angerufen, damit er oben im Haus das Fenster reparierte. Sie steckte ihr Handy ins Ladegerät und suchte aus ihrer Sammlung eine CD heraus.
Als Erstes fiel ihr Elgars Kantate Caractacus mit Rhodri in der Titelrolle in die Hand. Nachdenklich betrachtete sie das Cover, dann zog sie das Begleitheft aus der Hülle. Doch, Caractacus war der Mann, den sie als Caratacus kannte, und seine Tochter kam ebenfalls vor. Eigen, so hieß sie hier. Stirnrunzelnd schaute Jess auf die Besetzung. Orbin. Wer war Orbin? Sie überflog den Text. Offenbar Eigens Geliebter. Jess schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht stimmen. Eigon war ein junges Mädchen. In der Besetzung wurden noch ein Erzdruide aufgeführt und natürlich Kaiser Claudius. Langsamer las sie weiter. Elgar hatte die Szene in seinen geliebten Malvern Hills angesiedelt. Jess nahm die CD aus der Hülle, legte sie in den Spieler, fuhr zur Werkstatt hinaus und drehte die Lautstärke hoch. Hinter ihr lag der wahre Schauplatz von Caratacus’ Niederlage im Sommerlicht da, schmiegte sich unter die Höhen der sanften Hügel, schlief in der Biegung des Flusses, der Ort, den er mit so großer Umsicht für seine Schlacht mit den römischen Truppen gewählt und der ihm so schlecht gedient hatte bei der Begegnung mit der größten Streitmacht, die das Land jemals gesehen hatte.
Die letzte Etappe ihrer Reise führte von Verulamium nach Camulodunum. Insgesamt waren sie vierzehn Tage unterwegs
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