Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
befohlen worden, dort seine Residenzen zu errichten, weit genug entfernt von der Burg Edo, um möglichst wenig Ärger zu verursachen. Aus demselben Grund waren dort auch die ausländischen Gesandtschaften untergebracht worden, als die Barbaren eintrafen.
Nobu lief mit den Dienern in dem von den Rikschas aufgewirbelten Staub. Als er sich umschaute, sah er, dass sie sich auf einer breiten Straße befanden, gesäumt von schattenhaften, durch ausgetrocknete Reisfelder und staubige Maulbeeranpflanzungen voneinander getrennten Tempeln. Bäume raschelten und schwankten, und die letzten Blätter sanken herab, rostbraun, orange, dunkelrot und golden wie auf den Wiesen und Bergen seiner Kindheit. Die plötzliche Erinnerung trieb ihm Tränen in die Augen, und er wurde langsamer, trat die Blätter beiseite, während er an die gepflegten Straßen von Aizu dachte, die schwarz gestrichenen Häuser mit den dicken Wänden und die zerklüfteten Berggipfel am Horizont. Er wünschte sich, das Leben wäre weniger hart, sein Zuhause würde noch existieren und er könnte dorthin zurückkehren, statt durch diese feindselige Stadt zu streifen und ums Überleben zu kämpfen.
Er hatte so rasch erwachsen werden müssen. Im einen Moment war er noch ein Kind gewesen, war mit seiner Tasche voller Bücher zur Schule gelaufen, im nächsten hatte die Stadt in Flammen gestanden, und er war mit einer langen Flüchtlingskolonne barfuß durch den Schnee gestapft. Manchmal war er so müde gewesen, dass er sich am liebsten irgendwo zusammengerollt hätte und nie mehr aufgewacht wäre.
Er dachte an seine Brüder – Yasutaro, der Älteste, schwer verwundet in der Schlacht, Kenjiro, der zweite Sohn, der intelligenteste der vier, aber immer kränklich, und Gosaburo, der dritte Sohn, der alle Zukunftsaussichten aufgegeben hatte, um für ihren Vater zu sorgen – ihren tapferen, stolzen Vater, verbannt aus ihrer Domäne, gezwungen dazu, auf den Salzmarschen hoch im Norden ein Leben in Armut zu führen. Nobu schüttelte den Kopf, erfüllt von Scham über sein Selbstmitleid.
Besorgt um seine Schulbildung, hatten Yasutaro und Kenjiro ihn mitgenommen, als sie nach Tokyo gingen, um Arbeit zu suchen. Aber sie hatten rasch entdeckt, dass man Männern aus dem Norden, die alt genug waren, im Krieg gekämpft zu haben, mit Misstrauen begegnete. Für ein Kind wie Nobu war es leichter, den Lebensunterhalt zu verdienen, als für sie. Kenjiro, der das Englische gemeistert hatte, fand ab und zu Arbeit als Dolmetscher für westliche Barbaren in unbekannten Teilen des Landes, aber Yasutaro hatte es schließlich wieder nach Norden getrieben.
Nobu hatte mehr Glück gehabt. Er hatte zwar keine Schulbildung erhalten, doch es war ihm wenigstens gelungen, hier in Tokyo zu überleben, wo es Arbeitsmöglichkeiten gab. Er hatte etwas zu essen oder würde es bald haben, und jetzt hatte er eine Stelle, wenngleich er seiner Familie nie würde gestehen können, wer sein Arbeitgeber war. Ihm könnte es sogar gelingen, ein wenig Geld zu verdienen und es ihnen zu schicken.
Als die Rikschas und die Diener schließlich um eine Ecke bogen, war es bereits dunkel. Eine steife Brise strich über Nobus Wangen, und er roch die salzige Luft, sah das Glitzern des Wassers, die auf und ab tanzenden Segel und dümpelnden Schiffe. Gelbe Lichtvierecke fielen aus einer Reihe offener Stände. Der Mond erhob sich bleich über dem Meer. Möwen schlugen mit den Schwingen und kreischten. Keuchend blieb Nobu stehen und wischte sich die Stirn. »Die Bucht von Tokyo«, sagte einer der Diener. »Wir sind fast da.«
Nobu wurde mulmig zumute, als er sich fragte, was für ein Haus es wohl sein würde.
Sie folgten einer hohen Mauer, entlang der ein Graben voll welkem Laub verlief und die anscheinend gar nicht enden wollte. Dann kamen sie zu einem Tor, so groß wie ein Wohnhaus im Ostteil, mit geschnitztem Sturz und einem schweren Ziegeldach. Nobu folgte den Dienern durch das Tor und über den geharkten Kies, entlang der Pfade durch moosbedeckte Gärten mit Kiefern, die für den Winter in Stroh gehüllt waren. Er kam um eine Biegung und sah eine Ansammlung von Gebäuden in der Dunkelheit aufragen, mit geschwungenen Dächern und Veranden, verbunden durch Brücken. Im vordersten befand sich der riesige Haupteingang, vor dem Palankins und Rikschas halten konnten und durch den er den schwachen Schimmer goldener Wandschirme wahrnahm. Uniformierte Wachmänner mit Gewehren über der Schulter marschierten auf und ab.
Nobu
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