Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
alles entsetzlich klar geworden.
Taka verspürte einen Stich. Das war der Mann, den sie in jener Winternacht in Kagoshima umarmt hatte, die rechte Hand ihres Vaters, der ihn geschätzt und ihm vertraut hatte. Sie war überzeugt, dass er der Mann war, den ihr Vater sich für sie gewünscht hätte. Nachdem ihre Familie nun dem Ruin entgegensah, war sie ihr noch mehr verpflichtet denn je, nicht nur ihrer Mutter, sondern auch Madame Kitaoka. Das zu tun, was sie wollten, und sie glücklich zu machen, würde so einfach sein.
Doch ihr Herz gehörte Nobu. Das war weder vernünftig noch pflichtbewusst oder richtig, aber so war es.
Sie schaute in Kuninosukés blasse Augen und hatte einen Moment lang das Gefühl, in seine Seele blicken zu können. Da war so vieles, was sie sagen wollte und musste – dass es ihr leidtat, ihm nicht geben zu können, was er sich wünschte, dass er so viel hatte aufgeben müssen, um sie alle zu retten, wofür sie ihn immer bewundern würde. Doch die Worte kamen ihr hoffnungslos unzureichend vor.
Kuninosukés Wangen röteten sich. Er schluckte und senkte den Kopf, richtete sich wieder auf und drückte den Rücken durch, als wäre es beschämend, auch nur eine Spur von Schwäche zu zeigen.
Er packte Madame Kitaokas Handgelenk und hielt es so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. »Genug Tote«, murmelte er. Madame Kitaoka schien in sich zusammenzufallen. Sie stolperte zurück und ließ sich widerspruchslos den Dolch abnehmen.
»Verzeihen Sie mir, Madame«, sprach er sie förmlich an. »In der Hitze des Augenblicks habe ich diesen Mann nicht erkannt. Ich kann für ihn bürgen. Er kam am gestrigen Abend in unser Lager, um einen Brief von General Yamagata zu überbringen, und unser Herr hat ihn gebeten, Sie zu finden. Er trägt den Fächer unseres Herrn als Ermächtigung.«
Madame Kitaoka verbeugte sich, streckte mit einem angewiderten Ausdruck die Hand aus, nahm Nobu den Fächer ab und entfaltete ihn behutsam. Sie schloss die Augen und hielt ihn an ihr Gesicht, atmete den Geruch ein, las dann die Botschaft, ließ ihre Finger über die hingeworfenen, verschmierten Schriftzeichen gleiten. Sie beugte den Kopf und hielt ihren Ärmel an die Augen. »Masas Schrift, Masas letzter Befehl.«
Taka hörte sie kaum. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Zitternd ließ sie die Arme sinken. Nobu wandte sich ihr zu. Sie sah das Gesicht, das sie sich so oft vorgestellt hatte, die schrägen Augen, den vollen Mund, den schwarzen Haarschopf, und in ihr wurde die Gewissheit, alles würde gut werden, so stark, dass ihr die Knie weich wurden. Sie taumelte, drohte zu fallen, und er fing sie auf und hielt sie ganz fest.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schlang die Arme um ihn. »Du lebst«, flüsterte sie. »Ich habe so sehr darum gebetet, dass du kommst. Ich werde dich nie wieder gehen lassen, nie wieder.«
Sie spürte, wie sich Madame Kitaokas Blick in sie bohrte. Durch die Berührung eines Mannes, und dazu noch eines Aizu, brach Taka sämtliche Anstandsregeln. Doch dem Tod so nahe gewesen zu sein, rückte alles in ein neues Licht. Taka kümmerte es nicht mehr, was andere sagten oder dachten.
Dann überfluteten sie all die aufgestauten Gefühle der letzten Monate und Jahre, die Sehnsucht, die Traurigkeit und Enttäuschung, und sie verbarg ihren Kopf an seiner Brust und schluchzte. Endlich war er da. Sie dachte an ihre erste Begegnung, als er in Tokyo zu ihrer Rettung gekommen war, dieser dürre Straßenjunge mit den riesigen Augen und den viel zu großen Kleidungsstücken, und an die letzte, als er gegangen war und sie am Tor des Bambushauses zurückgelassen hatte. So viel war seither passiert. Sie fragte sich, wo er gewesen war, was er gesehen hatte und ob sie jemals fähig sein würden, einander auch nur ein wenig von dem zu erzählen, was sie durchgemacht hatten.
Wind blies vom gegenüberliegenden Berghang herüber, ließ die Bäume rascheln und stach ihr mit dem heißen Geruch von Schießpulver in die Nase. Schüsse krachten lauter den je. Nobu konnte ihren Vater nicht retten, konnte den Schmerz um seinen Verlust nicht lindern, doch ihn hier zu haben, lebend und unversehrt, war ein Trost. Er beugte den Kopf zu ihr, und sie fühlte sich sicher und geborgen.
Der Wächter räusperte sich. »Ich hab versucht, es Ihnen zu erzählen, Madame«, sagte er zaghaft. »Das war nicht die Armee, die den Hügel heraufkam, das war nur der Diener der jungen Dame. Ich dachte, der wär taubstumm, aber das war er
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