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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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sie sich einen Gang entlang, dessen Decke so niedrig war, daß Jane den Kopf einziehen mußte, wann immer sie auf eine Belüftungsröhre trafen. Elektrische Kabel liefen in Zweier- und Dreierreihen an den grauen Wänden entlang und führten im Bogen über Eingänge zu überflüssig gewordenen Seminarräumen hinweg, die in Lagerräume umgewandelt worden waren. Kartons mit veralteten Studienführern und Adressen für akademische Abschlußfeiern warteten müde neben Türen, die sich niemals mehr für sie öffnen würden.
    Der Gang endete in einem Treppenhaus, und sie setzten sich auf die oberste Stufe. Von unten ertönten Stimmen sowie das gelegentliche Geklapper eiliger Füße, doch es tauchte niemand auf. Über ihnen drehte sich ein verstaubtes ausgestopftes Krokodil in ansonsten nicht wahrnehmbaren Luftströmungen. Wo die Nähte aufgerissen waren, quoll graues Stopfmaterial heraus.
    »Sirin, was in aller Welt tust du da? Dich mit dieser Kreatur zu treffen?«
    Sirin starrte auf ihre Knie und schüttelte den Kopf.
    Jane nahm ihre Freundin bei den Händen. Sie waren wie Eis. Sirin hatte an Gewicht verloren; die Wangenknochen waren ausgeprägter, die Augen glänzend kalt. Sie sah wunderschön und verdammt aus. »Ich weiß, es geht mich nichts an. Aber in letzter Zeit hast du einige Seminare versäumt. Die Mädchen reden allmählich über dich. Sie sagen, wenn deine Durchschnittsnoten noch etwas tiefer sinken, wird man dich automatisch rauswerfen.«
    »Rauswerfen! Daß ich nicht lache.«
    »Genau das ist es, es geht um die richtige Einstellung. Davon rede ich! Sirin, sieh mal, ich habe selbst Probleme, und ich traue mich nicht, mich zu sehr auf deine Probleme einzulassen. Verstehst du? Wenn ich zu helfen versuche, werde ich nur uns beide herunterziehen. Aber ich bin deine Freundin. Ich kann dich wenigstens vor dem warnen, was jeder außer dir auf dich zukommen sieht.«
    Sirin saß reglos wie eine Säule da. Ihr Gesicht war so weiß wie Salz. »Ich bin gezeichnet«, sagte sie. »Für den Zehent.«
    Das weißt du nicht, hätte Jane fast gesagt. Aber etwas in Sirins Gesichtsausdruck überzeugte sie vom Gegenteil. »Wie kannst du dir so sicher sein?«
    »Ich habe es gesehen. Dreimal. Einmal in einem jungfräulichen Spiegel. Einmal in einer Pfütze Tinte. Einmal in einer doppelten Handvoll meines eigenen Bluts.«
    »Du kannst nicht sicher sein! Schließlich ist Vorhersagen keine präzise Wissenschaft.«
    »Dreimal? Das ist verdammt sicher.«
    Jetzt kamen Jane doch die Tränen. Sie konnte sie nicht zurückhalten. »O Sirin, wie konntest du nur! Du weißt ebenso wie ich, wie gefährlich es sein kann, in die Zukunft zu blicken. Meistens würde das, was man sieht, nicht geschehen, wenn man es nicht vorhergesehen hätte.« Sie ließ Sirins Hände los und wollte sie umarmen und trösten. Aber alles kam in ihr hoch, und sie boxte Sirin statt dessen einfach so hart, wie sie konnte, auf die Schulter. Es war zu schrecklich. »Verdammt! Warum?«
    Unbewegt sagte Sirin: »Ich habe keine Gründe. Ich hatte niemals irgendwelche Gründe, wenn ich etwas getan habe. Vielleicht haben andere Leute Gründe. Aber wenn ich in mich hineinsehe, so ist dort anscheinend nur eine große Leere, wo eigentlich etwas sein sollte. Warum? Ich weiß es nicht. Warum nicht?«
    Das Krokodil grinste höhnisch auf sie beide hinab. Ein ironischer Funke glitzerte in einem matten Glasauge, und ein lautloses Kichern zog sein Grinsen so breit, daß die ganze Baumwollfüllung herauszufallen drohte. Jane hatte die Beherrschung zurückgewonnen und wischte sich die Augen am Ärmel ab. »Du kannst doch noch ein paar Schritte zu deinem Schutz unternehmen.«
    »Ich habe bereits alles getan. Ich habe sogar schon überlegt, eine Freistellung zu kaufen, so verzweifelt war ich.«
    »Du könntest ...«
    »Aber was hätte es auch für einen Zweck, da ich es nicht tun werde?« Plötzlich lachte Sirin auf, schüttelte das Haar und sagte: »Kein weiteres Wort mehr. Gehen wir ins Studizentrum. Trinken wir etwas, spielen ein paar Runden Karten und tischen ein bißchen Klatsch auf. Da mir nur noch so wenig Zeit bleibt, möchte ich nichts mehr davon mit Reden und Reden und Reden über diese Sache verschwenden.«
    Jane biß sich auf die Lippe und nickte. Gemeinsam gingen sie die Treppen hinab. Das Krokodil über ihnen wurde kleiner. Sie spürte, wie sein verächtlicher Blick zu einer heißen pünktchenförmigen Quelle des Gefühls schrumpfte und dann verschwand.
    »Sirin? Was hast du über

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