Die Tochter des stählernen Drachen
Stimmen sind. So süß, daß du dich gleich vom Gebäude stürzen möchtest.«
Die Tür öffnete und schloß sich leise. Sirin kam auf den Campanile hinaus. Janes Anblick überraschte sie offenbar. Aber nach einem kurzen Zögern setzte sie sich neben sie auf die Brüstung. Zusammen hörten sie dem Wasserspeier zu.
»... wie im Chor erheben die Männchen die Stimmen als Antwort. Tief und leise. Wir klingen vielleicht nicht so lieblich, aber unergründlich. Wie Donner nach dem Gesang der Lerche.
Keine Ahnung, wie lange das Singen dauert. Man verliert das Zeitgefühl. Schließlich jedoch streckt sie sich und sieht sich um. Neckend. Sie spreizt die Schwingen. Sie springt. Sie fliegt. Sie steigt hoch in den Himmel, und sie singt noch immer.
Da verlieren wir völlig die Beherrschung. Wir krabbeln über den Rand, und der Instinkt beherrscht uns völlig. Vielleicht zwanzig-dreißig-vierzig von uns bilden einen Schwarm und fliegen hinter ihr her. Wir fühlen alle, wie uns der Hafer sticht, wir lachen und scherzen. Sie wird sich nur mit einem von uns vereinen. Also geht es dort oben rauh zu. So habe ich den Knick im Bein bekommen. So habe ich diese beiden verloren.« Er zeigte die Klauen und zog sie wieder zurück.
»Nun, es sind die Damen, die unsere Rasse fortbestehen lassen. Sie werden die Jungen aufziehen, sie nähren und hinauswerfen, wenn sie groß genug sind und damit anfangen wollen, einander zu töten. Merkwürdig, daß sie soviel stärker als die Männchen sind. Nur die besten von uns können mithalten. Der Schwarm schrumpft. Und natürlich besteht die Möglichkeit, die Rivalen davon zu überzeugen, daß es vielleicht an der Zeit für die Heimkehr ist.
Schließlich seid nur noch ihr beide da, du und sie. Sie ist dir noch immer voraus, aber sie versucht nicht zu entkommen. Tatsache ist, daß sie vielleicht sogar etwas langsamer wird. Vielleicht wirft sie einen Blick zurück, flirtet ein bißchen und schaut nach, wie du so bist. Sie kippt eine Schwinge, und das Mondlicht ist bleich auf ihrer Flanke. Ihre Klauen sind wie zwei schwarze Glasdolche. Ihre Brüste zwei weiße Schädel, und ihr Blick ist hungrig.
Sie schraubt sich hoch, und du folgst ihr. Die Stadt fällt zurück. Die Luft ist kalt und klar. Ein jeder deiner Muskeln schmerzt wie Feuer, aber du kommst ihr näher. Ihre Schwingen verdecken den Himmel. Sie streckt dir die schlanken Arme entgegen, und sie ist wunderschön und zart wie Dame Tod in Person. Ihr Moschusduft bringt dich zum Wahnsinn. Sie begehrt dich - sie kann’s nicht verbergen - ebenso sehr, wie du sie begehrst.«
Sirin atmete flach. »Hört sich wunderschön an«, flüsterte sie.
»So sagen es uns die Damen.« Sordido stieß einen langen tiefen Seufzer aus. »Doch schließlich würden sie wohl kaum etwas anderes sagen, nicht wahr? Es ist nicht so, als erhielte das Männchen hinterher Gelegenheit, seine Stimme zu einer Meinung über dieses Thema zu erheben.«
»Wie bitte?« fragte Jane.
»Nun, wir überleben ja nicht. Die Dame hatte eine lange Nacht hinter sich, und ziemlich bald wird sie eine Schar von vielleicht einem Dutzend Jungen ausbrüten. Das heißt, sie wird ihre Energie benötigen. Sie muß irgend etwas essen.«
»Das ist grotesk!« sagte Jane.
Sirin sagte nichts.
»Ja, nun, von deinem Standpunkt aus vielleicht. Aber du kannst ihnen dafür keine Schuld geben - den Damen. Das ist einfach unsere Biologie. In dem Punkt haben sie nichts zu melden.« Einen Augenblick lang sackte Sordido trübsinnig in sich zusammen. Daraufhin richtete er sich mit sichtbarer Anstrengung wieder auf. Ein langsames Schulterzucken. »Nun ja. Sieh mal, tut mir ja leid, wenn ich dich deprimiere. Dieses Thema ist eben so ... na, du weißt schon.«
»Ich verstehe.«
»Kein böses Blut?« Er streckte die Hand aus.
»Kein böses ...«
»Jane!« Sirin packte Jane und zog sie zurück, als sie die Hand ausstreckte, um die Hand des Wasserspeiers zu ergreifen. Die steinernen Finger schlossen sich über leerer Luft.
Sordido kicherte. »Verdammt!«
Sirin führte Jane vom Campanile herab. In den Granitkorridoren und Marmorhallen von Tintagel lag eine schwache Ausdünstung schaler Luft. Jane fühlte sich angespannt und schwach; eine nachträgliche Schockreaktion. Aber sie dankte Sirin nicht für die Rettung ihres Lebens. So lange sie ihr nicht dankte, so lange die Spannung zwischen ihnen anhielt, so lange konnte sich Sirin nicht von Jane losreißen. Und es mußten einige Dinge gesagt werden.
Blind tasteten
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