Die Tochter des stählernen Drachen
Finger schlossen sich um die Zigarette. Langsam und sorgfältig nahm er einen Zug und bot sie daraufhin auf Armeslänge wieder an. Jane schüttelte den Kopf. Sie wußte ein wenig von den Jagdstrategien der Wasserspeier.
»Wie heißt du?« fragte der Wasserspeier.
»Jane.«
Er machte eine brüske, täppische, fast komische Verbeugung. »Sordido di Orgulous, zu Ihren Diensten. Bist hergekommen, um dir über was klar zu werden, hm?«
»Nein, ich hoffe, hier jemanden zu treffen.« Jane suchte Sirin, und Nant hatte ihr gesagt, daß sie zu dieser Tageszeit gern hier oben herumzuhängen pflegte.
»Ich auch.«
Jane blickte hinaus über die Stadt, genoß ihre Weitläufigkeit, ihr Ausmaß, ihr Schweigen. Schließlich fragte sie, eher aus Höflichkeit, als daß es sie wirklich interessierte: »Einen weiteren Wasserspeier?«
Sordido brüllte vor Lachen. »Hoho! Dafür sind wir Felsleute zu territorial veranlagt. Ich habe die südliche Fassade und die obersten fünfzehn Stockwerke. Nordfassade und Spitze gehören Lordo di Branstock. Weiter unten lebt Sozzo di Tintagel. Ein Ortsansässiger. Wenn einer von diesen Fieslingen seinen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, werd ich ihnen beibringen, wie man abstürzt.
Nein, ich habe eine regelmäßige kleine Kundschaft, die herkommt, um Dinge mit mir zu besprechen. Ich bin ein guter Zuhörer. Kommt daher, weil ich so einen langsamen Metabolismus habe. Mir wird nicht so leicht langweilig.«
»Worüber sprechen sie?«
»Du wärst überrascht. Scheiße, die sie ihren besten Freunden nicht erzählen wollen. Die meisten von ihnen suchen lediglich einen kleinen Flirt mit der Gefahr. Andere haben eine ernsthafte Anlage zur Selbstzerstörung. Sie reden. Ich höre zu. Sie bitten mich um meinen Rat. Ich erteile ihn. Hin und wieder gelingt es mir, einen durch Süßholzgeraspel über den Rand zu schwatzen. Dann esse ich. Neun von zehn Malen hatte sie das gleich von vornherein vorgehabt. Diesmal setzte ich berechtigte Hoffnungen auf diejenige, die hier gern vorbeischaut.«
Ein dunkler Verdacht stieg in Jane auf. »Du weißt ihren Namen nicht, oder?«
»Nö.«
»Groß, schöne Beine, langes Haar?«
»Ist keine Beleidigung, Fräulein, aber es fällt mir ziemlich schwer, euch auseinanderzuhalten.«
»Aha.« Jane verfiel in Schweigen.
Eine Zeitlang genossen sie gemeinsam die Aussicht, ohne zu sprechen.
»Was ist also mit diesem Zehent?« fragte Sordido plötzlich. »Du freust dich drauf?«
Jane sah ihn an. »Wenn man’s so nennen will. Man könnte glauben, der Zehent muß sich unbedingt jemanden von deinen Bekannten holen, vielleicht sogar viele. Also bin ich nicht sonderlich scharf darauf. Dann wiederum, sobald er vorbei ist, ist er vorbei. Man kann weitermachen. Daher ist es vielleicht am besten, er kommt, und dann haben wir es hinter uns.« Sie hielt inne. »Was kümmert dich der Zehent überhaupt? Ich habe euch Burschen für immun dagegen gehalten.«
»Ist die einzige Zeit, wo wir uns satt essen können.«
»Oh.« Sie blickte weg.
»Oh«, äffte Sordido sie nach. »Oh, meine Liebe. Wie schrecklich vulgär.« Verärgert richtete er sich auf den Oberschenkel auf und entfaltete nachdenklich die Schwingen. Sie waren riesig groß. »Sieh mich an! Wieviel Energie benötigt es deiner Ansicht nach, um so etwas Schweres in die Luft zu heben?«
»Nun ...«
» Gewaltig viel, soviel braucht man. Ich werd dir noch etwas sagen, was du über die Felsleute nicht weißt. Wir begatten uns nur im Fliegen. Kapiert? Einmal alle zehn Jahre füllt ihr eure Straßen mit Aas, und wir steigen herab und fressen uns satt. Ist kein schöner Anblick, das garantiere ich dir, aber wessen Schuld ist es? Wir essen soviel, wie wir können. Dann steigen wir an den Fassaden irgendeines Gebäudes, das gerade in der Nähe ist, wieder hinauf.
Ist ein verfluchter Aufstieg. Er dauert Stunden. Wir sind den ganzen Tag lang unserem Geschäft nachgegangen, also ist es womöglich Sonnenuntergang. Dann ist der blutgetränkte Himmel so leuchtend hell wie das Höllentor selbst. Wolken sind so purpurrot wie ein Bluterguß. Wir klettern. Die Welt wird dunkel, und die Sterne kommen heraus. Wenn wir oben sind, ist es Nacht.
Dir ist vielleicht aufgefallen, daß die Felsleute nicht viele Weibchen haben. Wenn unsere Damen also in Hitze kommen, gibt es jede Menge Wettkämpfe um ihre Gunst. Der Mond geht auf. Wir warten. Schließlich erhebt eine ihre Stimme.« Er zitterte. »Nekhbet! Du hast keine Ahnung, wie wunderschön ihre
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