Die Tochter des stählernen Drachen
unheilvoll funkelnde Blicke seitens des Wachpersonals auf sich zog.
»Jetzt bist du an der Reihe«, sagte er.
»Ich kann das nicht!«
Er überhörte sie. »Dort, gleich da drüben. Paß nur auf, daß du keines von diesen Schultertüchern hinten berührst. Sie sind gesichert. Ich hab’s gespürt, als wir daran vorbeigegangen sind; wie ein kleiner elektrischer Schlag.« Er stieß sie an. »Wir treffen uns am Brunnen.«
Irgendwie fand sich Jane im Innern des Geschäfts wieder. Langsam ging sie zwischen einem Regal von Trainingsanzügen mit Limonen-Kirsch-Muster und einer Theke mit Parfüm hindurch, drehte sich dann um und nahm vorsichtig, überlegend, eine Bleiglasflasche ›Merde du Temps‹ von Ricci von Ys. Es war etwas Wunderbares und paßte perfekt in ihre Handfläche.
»Kann ich dir helfen?« Eine Hexe tauchte neben ihr auf. Ihre Wangenknochen waren aristokratisch scharf, und die Haut war von einer eleganten leichenhaften Färbung. Ihre Miene besagte, daß sie bezweifelte, Jane helfen zu können.
»Nein!« Jane legte die Flasche hastig auf den Tisch zurück. »Ich - schau mich bloß um.«
Mit eisigem Lächeln zog sich die Hexe ein wenig zurück. Jane drang tiefer in das Geschäft ein.
Wo immer sie jedoch auch hinging, spürte sie den argwöhnischen Blick der Hexe im Rücken. Er war wie eine körperliche Kraft, die sie weiter und weiter in den Hintergrund des Geschäfts schob, bis sie sich ganz nach hinten durchgewunden hatte und ein rot-schwarzes Schultertuch mit einem Saum aus weißen Schädeln und vier keltischen Spiralen auf der Klappe betastete. Sie blickte auf und sah, daß die Hexe wunderbarerweise von einem neuen Kunden abgelenkt war und nicht mehr in ihre Richtung schaute. Hastig schob sie sich das Tuch in die Bluse.
Erst dann erinnerte sie sich an Ratsnickles Warnung, die Schultertücher zu meiden.
Einen Augenblick lang erwartete sie, daß ein Blitz sie erschlüge, daß Wächter herabstiegen oder eine Klauenhand sich ihr ums Handgelenk schlösse. Dann, als sie einen Blick hinauf in den Winkel der Decke warf, erkannte sie das dort angebrachte Bündel aus Knochen und Federn wieder. Es war, mit minimalen Veränderungen, genau wie das Fetischbündel außen vor Bluggs Türschwelle, die sie überquert hatte, um seine Fingernägel zu stehlen. An jenem Tag, als sie das Zauberbuch des Drachen entdeckt hatte.
Ihr Blut war menschlich. Ihr gegenüber war der Fetisch machtlos.
Mit klopfendem Herzen verließ sie das Geschäft.
Als sie und Ratsnickle sich an einer Bank beim heiligen Brunnen am anderen Ende des Einkaufszentrums trafen, war sie bereits auf der Toilette gewesen, um ganz für sich allein das Schultertuch herauszuziehen und wieder zurückzustecken. Sie stand am bemoosten Rand des Brunnens und drehte sich auf den Zehenspitzen. Einen Augenblick lang war sie genauso eine wilde Range wie jedes andere der Mädchen in ihrer Klasse. Sie ballte die Hand zur Faust, zog dann das Tuch aus dem Ärmel und schwenkte es in der Luft. »Gefällt dir, was ich gekriegt habe?« fragte sie und lachte über Ratsnickles Erstaunen.
»Wie hast du das angestellt?« fragte er argwöhnisch.
»Ach«, sagte sie leichthin, »ich habe so meine Methoden.« Sie leckte sich die Lippen. »Machen wir’s noch mal.«
Als Jane schließlich ging, hatte sie sich eine Handvoll Krimskrams in eine Hosentasche gesteckt, und das Tuch wehte ihr um den Hals. Sie hatten Stunden in dem Einkaufszentrum verbracht, und dennoch war der Nachmittag draußen nicht weiter vorangeschritten als bei ihrem Kommen. Fast hätte sie kehrtgemacht und wäre gleich wieder hineingegangen. Aber Ratsnickle wollte nicht zulassen, daß sie noch etwas mitgehen ließe. Ihre Begeisterung für den Sport entmutigte ihn. Sie hatte den Verdacht, daß er doch kein so großer Experte im Ladendiebstahl war, wie er ihr hatte einreden wollen.
Aber sie wußte, sie würde wieder herkommen. Auf eigene Faust.
»Ich bin da!«
7332 gab keine Antwort. Das tat er nie. Während der ganzen Zeit, die sie hier über der Müllkippe gelebt hatten, hatte er nicht einmal mit ihr gesprochen. Nach ihrem einzigen wilden und ruhmreichen Flug in der Nacht ihrer Flucht aus dem Fabrikgelände war er völlig untergetaucht. »Sie werden uns suchen«, hatte er gesagt. »Halte dein Versprechen, und es wird keine Schwierigkeiten geben.« Seitdem schwieg er. 7332 hatte die unheimliche Geduld aller Saurier auf Eisenbasis. Doch obgleich es Monate her war, seitdem sie ihn zuletzt hatte sprechen hören,
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