Die Tochter des stählernen Drachen
als überholt angesehen wurde, hatte sie einen Kundenkreis. Gewisse ... hochrangige Persönlichkeiten ziehen Nutzen aus den Lieferverträgen.«
Der Geruch nach Kreidestaub war rauh in Janes Nase, eine elektrostatisch aufgeladene Ausdünstung toter, in der Luft schwebender Moleküle, nichts weiter. Sie schmeckte es im Mund. »Aber wenn das stimmt, was Sie sagen, dann ist ja alles bedeutungslos. Nicht wahr? Ich meine, dann bedeutet nichts irgend etwas, stimmt’s?«
»Acu tetigisti« , sagte der bleiche Mann mit seiner leidenschaftslosen Stimme. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Sie schauderte, und eine Gänsehaut überlief sie. Vielleicht nur deswegen, weil die zufällige Nennung von Roosters wahrem Namen Ereignisse ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, an die sie sich nicht erinnern wollte. Aber tief im Innern sagte etwas Kleines und Wahres wie ein Geläut zu Jane, daß es überhaupt nicht so war.
Etwas Schreckliches war gerade geschehen, und sie hatte keine Ahnung, was.
Das Einkaufszentrum war genau so, wie Jane es sich vorgestellt hatte, und noch mehr. Es stand auf einer planierten Hügelkuppe und erhob sich graziös auf weißen Marmorsäulen, und eine hohe grasbewachsene Kuppel bildete das Dach. Nervös ging sie über einen Parkplatz, wo Chrompferde schnaubten, mit den Hufen über den Asphalt scharrten und Öl pißten. »Komm schon!« sagte Ratsnickle mißmutig. »Sei kein Frosch!« Er führte sie durch die Elfenbeintore am Haupteingang.
Im Innern existierte die Zeit nicht.
Leise Musik ertönte, und die geschickt arrangierten Leuchten erfreuten das Auge mit einer endlosen Vielfalt an Schattierungen und Mustern und machten Schatten kantenlos. Das Licht schimmerte auf Bettpfosten aus Messing und sprang fröhlich von den Spiegelbällen davon, die sich zwischen den Wimpeln oben drehten. Allein aufgrund ihrer Anwesenheit hier fühlte sich Jane geadelt; sie war eine der eleganten Käufer, deren Geschmack diese sanfte Innenwelt zu erfreuen suchte.
Die Luft roch nach Lilien, Leder und Schokokeksen.
»Nicht herumtrödeln, ja?« sagte Ratsnickle.
Im Einkaufszentrum gab es einhundert makellose Geschäfte, und jedes einzelne davon war eine Schatulle voller Schätze. Sound-Systeme, Kleider aus goldenem Tuch, Schuhe aus Smaragd: Reihen um Reihen identischer Reichtümer lagen in einer solchen Überfülle auf den Regalen, daß es das Bewußtsein nicht zu erfassen vermochte. Sie stand vor einem Laden mit dem Namen ›Zauberberg‹, und ihr Spiegelbild im Schaufenster legte sich über Kelche, Aschenbecher, Karaffen, Briefbeschwerer und Schüsseln aus geschliffenem Kristall. Von jeder Facette blitzte es in allen Regenbogenfarben, während hinter ihrem Spiegelbild die gewellten Schatten von Muskatnußbäumen, Fontänen und Aufzügen schwebten. Jane schwirrte angesichts der süßen Pracht all dieser Dinge der Kopf.
Benommen ließ sie sich von Ratsnickle in eine Boutique führen. Man hatte sie ›Eulenspiegel‹ genannt.
»Glotz nicht so!« sagte er gereizt. »Hier.« Er zerrte an ihrer Hose, und etwas fiel schwer in ihre Tasche. »Sieh natürlich aus!«
»Was?« Sie erstarrte und fragte flüsternd: »Was ist das?«
»Eine Armbanduhr.« Ratsnickle schnitt ein Gesicht. »Flüster nicht so, du wirst die Aufmerksamkeit auf uns lenken.«
Zaghaft ließ sie sich von ihm durch mehrere Geschäfte führen. Während er in völlig normalem Tonfall sprach und natürlich jedesmal in Schweigen verfiel, wenn jemand zu nahe kam, lehrte er sie die Vorsichtsmaßnahmen und die Feinheiten beim Ladendiebstahl. »Schnapp dir nichts von dem Gold«, sagte er vor einem Juwelierladen. »Das ist nur Dekoration; das echte Zeug liegt wohlbehütet hinten. Bis es bei dir zu Hause ist, hat es sich in trockene Blätter oder tote Mäuse verwandelt. Vielleicht auch in Steine.«
»Oh«, machte sie.
Ratsnickle zeigte Jane, wo die Anti-Diebstahl-Sprüche angebracht waren (in hohen unauffälligen Ecken der Geschäfte); er zeigte ihr die Zauberspiegel, durch die ein Wach-Oger aus der Entfernung die Waren beobachten konnte, die lebenden Silberbroschen, die ›Dieb‹ schreien würden, wenn man sie aus ihren Vitrinen entfernte. Er verstand wohl wirklich sein Geschäft.
Sie bemerkte jedoch, daß er nicht bei ›Enchanté‹ oder ›Frau-Holle-Moden‹ oder bei irgendeinem der Geschäfte für die oberen Zehntausend zuschlug, sondern sich auf die eher schlichten und kundenreichen Geschäfte verlegte. Orte, wo nicht schon ihre bloße Anwesenheit
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