Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
Vom Netzwerk:
hervorgestochen. Zwei rote kleine Augen spähten wie besessen unter einem ungekämmten Wust von Haar hervor, und ein Klugscheißer-Grinsen zog einen Mundwinkel empor. Seine Arme waren zu dünn und zu lang, ganz im Gegensatz zum massigen Körper; aber sobald man das einmal hingenommen hatte, hatte er wunderschöne Hände. Die Finger waren außerordentlich lang und hatten so geschmeidige Gelenke, daß sie sich zweimal um eine Cokeflasche winden konnten.
    Er wandte sich ab, als sie sich setzte.
    Jane spürte, wie ihr eine eisige Kälte das Gesicht spannte. Sie faßte das Pult so fest mit den Händen, daß die Nägel weiß wurden. Eine ihr fremde Entschlossenheit setzte sich in ihr fest. Sie wartete, bis Grunt sich abwandte und herabbeugte, um die Kreide aufzuheben. Dann straffte sie den Rücken und zeigte ihm den Stinkefinger.
    Nur die Kinder in unmittelbarer Nähe sahen es. Bei ihrem Gelächter fuhr Grunt herum. Aber Jane war vorbereitet. Ihre Hände waren unsichtbar, und ihre Miene war weder schuldbewußt noch unschuldig, sondern mürrisch und genau im richtigen Ausmaß abweisend. Verblüfft wandte sich Grunt wieder der Tafel zu.
    Ratsnickle schluckte ein schallendes Gelächter hinab. Ein Fliedermädchen fing Janes Blick auf und lächelte. Jane nickte zurück, ganz, ganz leicht, und öffnete ihr Lehrbuch.
    Sie lernte.

    Zur Mittagszeit lungerte sie, das Tablett in der Hand, am Rand der Kantine herum und hielt nach einem freien Platz Ausschau. Es hatte keinen Zweck, sich zu den Zwergen, Däumlingen oder Grillen zu setzen, selbst wenn sie in einen ihrer Stühle gepaßt hätte; sie waren allesamt zu stammesbewußt, jeder auf seine eigene Art. Noch wäre es weise, sich zu nahe neben eine Lamia, Gwarchell oder Kirkgrim zu setzen. Ein Eckplatz wäre gut, vorzugsweise mit einem weiteren leeren Stuhl daneben, der als Puffer gegenüber der Tischclique dienen konnte. Man sollte sie schließlich nicht für eingebildet halten. Oder ein Stuhl zwischen zwei verschiedenen Gruppen; dann könnte sie vor sich hinstarren und übersehen werden.
    Da es keine guten Alternativen gab, nahm sie schließlich neben Ratsnickle Platz.
    Ratsnickle war in ein Gespräch mit einem schlaksigen Elf namens Peter of the Hillside vertieft. Jane hatte einige Unterrichtsfächer mit ihm gemeinsam. Peter trug gebleichte Jeans und eine Denim-Jacke, mit Wild Hunt’s ›Horns of Elfland Tour‹-Logo auf dem Rücken aufgedruckt. Er hatte eine schlechte Gesichtsfarbe und einen guten Haarschnitt. Als sie sich hinsetzte, blickte er auf, aber nicht zu ihr, und fragte in die Luft hinein: »Wer ist denn diese trübe Tasse?«
    Jane versteifte sich.
    »Sie gehört zu mir«, sagte Ratsnickle. »Okay?«
    Peter hob die Schultern. »Von mir aus.«
    Jane aß schweigend. Sie hatte Angst, sich am Gespräch zu beteiligen. Es ging um Maschinen - Peter war offenbar Maschinenbau-Student -, die Psychologie von geflügelten Drachen und das abartige Benehmen einer Bohrpresse, die anscheinend seit Urzeiten in der Schule war und vielleicht eingeschläfert werden mußte. Jane hörte fasziniert zu. Ihre Unterrichtsfächer, in denen überhaupt Maschinen berührt wurden, waren rein theoretisch; sie beneidete die Jungen um ihre praktische Erfahrung.
    Als sie ihr Tablett aufnahm und gehen wollte, fragte Ratsnickle wie nebenbei: »Bleibt’s dabei, heute nachmittag?«
    Sie nickte ein ›Ja‹ und floh.

    Da sie weit hinter der übrigen Klasse zurück war, mußte Jane jeden Nachmittag für zwei Stunden Nachhilfe zum bleichen Mann gehen. Der bleiche Mann war ein großes dünnes Wesen, das eine beigefarbene Baumwollhose, ein weißes Hemd und Segeltuchschuhe trug. Seine Haut war so leblos wie seine Kleidung, und seine Augen waren noch toter.
    Wie stets sah er nicht auf, wenn sie eintrat. Er saß reglos auf einem hölzernen Stuhl, die Hände auf den Knien, den Rücken zur Tafel, und starrte vor sich ins Nichts.
    »Hallo? Ich soll hier zum Förderunterricht.«
    Der bleiche Mann sah auf. Er nickte schwach. Uneilig, wie nebenbei, hob er ein Buch auf, öffnete es, blätterte eine Seite vor und dann eine zurück. »Es gibt drei Sterne in den Himmeln«, sagte er, »die Jupiter umkreisen; wandernde siderische Körper auf unregelmäßigen Bahnen. Sie sind Ursache dafür, daß der Wandelstern bei seinem mächtigen, zwölf Jahre währenden Lauf um die Sonne die Tierkreiszeichen weniger rasch durchschreitet.«
    Jane mußte sich stark konzentrieren, um die Bedeutung der Worte zu erfassen, so gleichmütig

Weitere Kostenlose Bücher