Die Tochter des stählernen Drachen
lag ihr seine Gegenwart noch immer schwer im Schädel, wie ein Klumpen schmutzigen Eises, das den Winter überdauert hatte.
Sie legte ihre Bücher auf und machte sich ans Lernen.
Von draußen ertönte ein leises Pochen und daraufhin das noch leisere Geräusch von Flügeln, die kräftig schlugen, um sich im Dämmerlicht in die Luft zu heben. Möglicherweise hatte eine Eule oder eine kleinere Harpyie Nahrung für ihre Jungen erbeutet. Jane zog an einem Griff, um ein Kabinenfenster zu öffnen. Der Himmel draußen war wunderschön. Drei tiefstehende Sterne glitzerten in der Dämmerung. Eine Perle von Rot schimmerte oberhalb des Wassertanks.
Etwa um diese Zeit des Abends erhaschte sie manchmal einen Blick auf die Wolfsjungen, die im Gänsemarsch über die Müllkippe zum Markt liefen, und vernahm ihr einsames und hingebungsvolles Geheul. Es verlangte sie danach, zu ihrer Bande zu gehören, eine schwere Lederjacke, die bei jeder Bewegung quietschte, und spitze Stiefel mit kurzen verchromten Ketten über den Fersen zu tragen. Gelangweilt und streitlustig bei der Spielhalle herumzuhängen, irgendwelcher heißen Musik zuzuhören, sich vielleicht ein bißchen illegalen Stoff zu beschaffen.
Oftmals blieb sie bis in die frühen Morgenstunden am Fenster und wartete darauf, daß die Wolfsjungen auf ihrem Heimweg vorbeitrabten. Schläfrig und mit blutigen Schnauzen. Einmal hatte sich einer von ihnen, der letzte in der Reihe, umgedreht und sie angesehen. Einen Moment lang hatten sich ihre Blicke verfangen, und sie hatte das wilde Verlangen verspürt, die Tür aufzureißen und barfuß hinter ihnen herzurennen.
Aber Jane wußte es besser. Wolfsjungen waren nicht ungefährlich.
Also hielt sie heute abend die Tür wie stets verschlossen. Nach einer Weile löste sie ihr Tuch und glättete es über einem Knie. Es war aus reiner Seide, von Zwergenkünstlern handgefärbt. Die Spiralen waren angeordnet, als strahlten sie von einem gemeinsamen Zentrum aus, so daß die eine Spirale in die andere zu verlaufen schien. Sie verknotete es wieder lose um den Hals und drehte es herum, so daß der dreieckige Teil vorn herabhing. »Siehst du, was ich hier habe? Hübsch, nicht wahr?«
7332 gab keine Antwort.
»Ist gestohlen.«
Nichts.
»Ich bin mit einem Jungen zum Einkaufszentrum gegangen, und er hat mir das Klauen beigebracht. Ich war gut.«
Noch immer antwortete der Drache nicht.
Jede Nacht vor dem Schlafengehen sprach Jane zu 7332. Sie sammelte all ihre Willenskraft und versuchte, ihm gedanklich ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Meine Schuhe nutzen sich ab, dachte sie, bald werde ich neue brauchen. Und auch Hausschuhe. Geld für Schulbücher, neue Jeans, ein Poster von Bryan Faust, in schwarzes Leder gekleidet, seine Stratocaster auf Hüfthöhe hängend. Manchmal hörte der Drache zu; meistens jedoch nicht. Jetzt kam das hoch, was sich als Ergebnis seiner Gleichgültigkeit in ihr angesammelt hatte, und quoll in Tränen heraus.
»Verdammt! Warum willst du mir nicht antworten, du blödes Miststück? Warum?« Sie schlug mit der Faust auf eine Eisenplatte. »Weißt du was? Ich glaube nicht, daß du noch am Leben bist. Du hast lediglich noch das Zeug für einen Flug in dir gehabt, und du hast es aufgebraucht. Du bist jetzt nichts anderes mehr als eine Schlafstelle aus Eisen. Vielleicht ist noch etwas Strom in deinen elektrischen Systemen, so ein dämmriges Bewußtsein, aber das wär’s dann auch. Du bist lobotomisiert worden, du kannst ja nicht mal sprechen. Du bist nichts! Nada! Ich sollte dich als Schrott verkaufen!«
Keine Antwort.
Ärgerlich fegte sie ihre Bücher von der Pilotenliege. Sie verstreuten sich über die Tagesdecke, die auf ihrer rahmenlosen Matratze lag. Ihr Besitz war spärlich; jedoch war die Kabine auch so schon winzig genug, daß es kaum genügend Platz dafür gab.
Sie warf sich auf die Liege.
Auf eine Berührung hin schalteten sich die Navigationssysteme ein. Die Panoramascheibe schloß sich ihr um den Kopf, und sie blickte wieder einmal durch Melanchthons Augen. Er starrte stur zu Boden. Sie hob ihn an. Sie hatte jetzt Rundum-Sicht, volle 360 Grad, über die Müllkippe hinweg auf einen Teil des Buschwerks sowie einen kurzen steilen Hang auf der anderen Seite, wo eine verrußte Reihe Ziegelhäuser ihre schmalen Hinterhöfe zeigte. Überall lagen Schlacke und die verrosteten Gerippe von Fahrrädern und anderen toten Maschinen. Die Inschriften auf den Gartenmauern leuchteten in dem Drachenblick wie Neon: ELFEN VERRECKT!
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