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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Baumwolle und völlig ausgetrocknet. Die Nachtluft wirkte samtwarm, weich und einladend. Gwen folgte ihr zur Tür. Später würden sie tanzen gehen, Peter und Gwen. Gwen tanzte für ihr Leben gern.
    »Du besuchst uns wieder mal, ja?« Gwens Augen waren groß und dunkel. In ihrer Stimme schien - obgleich es nicht sein konnte, wirklich nicht - die Spur einer Bitte zu liegen.
    Jane konnte ihr nichts abschlagen.

    Am nächsten Morgen sprachen alle auf dem Schulhof über Gwens Sondersendung. Jane war bis zum Bersten erfüllt von ihrem Besuch in Peters Wohnung. Sich Gwens Show im Beisein von Gwen anzusehen war so ziemlich das Tollste, was sie je im Leben getan hatte. Aber sie wollte vor dem Mittagessen nicht darüber sprechen. Sie wollte es noch eine kleine Weile als ihr eigenes besonderes Geheimnis hüten.
    Aber dann ereignete sich etwas, wodurch sie Gwen völlig vergaß.
    Sobald Jane den Klassenraum betrat, war es offensichtlich, daß dieser Tag anders werden würde. Strawwe, der Prüfungsaufseher, thronte angespannt und mit dünnen Lippen auf dem Rand von Grunts Pult. Das bedeutete, daß ihnen eine Klassenarbeit bevorstand, wenn nicht noch Schlimmeres.
    Strawwe trug einen Dreispitz mit der flachen Seite nach vorn, das offizielle Rangabzeichen. Das Haar war so fest zu einem Pferdeschwanz gebunden, daß er nicht mehr blinzeln konnte, und als Ergebnis dessen hatte er beständig Glotzaugen. Er schlug sich bei jedem hereinkommenden Kind einmal mit einem Stahlkanten-Lineal auf die Hüfte. Als der letzte Schüler eingetreten war, nickte er Grunt zu.
    Nachdem Grunt um Aufmerksamkeit gebeten hatte, räusperte er sich. »Die drei S«, sagte er. »Die drei S sind euer Leitfaden für vorzügliche Leistungen in der Schule. Die drei S sind euer goldener Schlüssel für die Zukunft. Jetzt - alle zusammen: wie lauten sie?«
    »Seid gläubig«, murmelte die Klasse. »Seid brav, seid ruhig.«
    »Was war das letzte?« Er legte die Hand ans Ohr.
    »Seid ruhig!«
    »Ich höööööre euch niiiiicht!«
    »SEID RUHIG!«
    »Gut.« Er legte die Fingerspitzen zusammen. »Jetzt, meine Klasse. Kinder. Liebe, liebe kleine Kinder. Wir haben das Privileg - das große Privileg -, heute einen bemerkenswerten Gast bei uns zu haben, der unsere Klasse im Auftrag der Behörde für Industrielle Korrektionsanstalten besucht. Wißt ihr, wer es ist?«
    Niemand sagte etwas.
    »Stimmt. Ihr wißt es nicht. Ihr müßt darauf warten, daß ich es euch sage.«
    Jetzt rutschte Strawwe vom Pult und ging schweigend zwischen den Reihen der Schüler einher. Jane mußte fest an sich halten, daß sie nicht den Kopf einzog, als er jäh am Rand ihres Blickfelds auftauchte oder als der Schatten eines Lineals über ihre Fingerknöchel fiel, zögerte, darüber verharrte und sich schließlich weiterbewegte. Sie getraute sich nicht, ihn beim Vorübergehen anzublicken. Für eine solche Unachtsamkeit hätte sie wenigstens eine heftige Ohrfeige zu erwarten.
    Als er gerade die vorderen Reihen erreichte, quietschte ein Brett unter seinen Füßen, und ein Kopf mit dichten roten Locken wandte sich reflexartig bei dem Geräusch um.
    Zack! Das Lineal fuhr herab, und Jane hörte Hebog scharf den Atem einziehen. Er schrie jedoch nicht. Zwerge waren zäh.
    »Mis-ter Hebog. Wie es scheint, mangelt es Ihnen heute ein wenig ...« Grunt hielt inne und ließ ein winziges Lächeln auf den vorgestülpten Lippen erblühen »... an Achtsamkeit.«
    Die Spannung brach, und alle brüllten vor Lachen, Jane eingeschlossen. Zu spät beherrschte sie sich wieder und hielt inne. Aber sogar die anderen Zwerge lachten. Drei davon waren natürlich schwarze Zwerge, aber dennoch war es deprimierend.
    Als das Gelächter erstarb, sagte Grunt: »Die drei Un-s! Sagt sie auf!«
    »Un-beweglichkeit, Un-verschämtheit, Un-dankbarkeit!« sangen sie pflichtgemäß im Chor.
    »Das ist korrekt.« Das Gefühl einer Gegenwart baute sich draußen auf dem Korridor auf, ein bedrohlicher Druck mit einer Spur Ozon, als würden sich Gewitterwolken am Horizont sammeln. »Und wenn ihr, trotz meiner Bemühungen, unbeweglich, unverschämt und undankbar seid, dann könnte es erforderlich sein, daß ihr dem« - der Aufseher materialisierte sich neben der Tür, öffnete sie einen Spalt weit und nickte - »Kinderfänger Rede und Antwort stehen müßt.«
    Strawwe stieß die Tür auf, und der Kinderfänger stolzierte herein.

    Er war ein unglaublich gutaussehendes, künstlich gebräuntes Wesen, bekleidet mit einem importierten Seidenanzug. Die

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