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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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sich in seinen Sinnesapparat ein.
    »Hallo!« flüsterte sie. »Ich bin’s wieder.«
    Der Gesichtssinn von 7332 war fest auf den Boden gerichtet. Jane hob ihn allmählich und schwenkte ihn dann neugierig in seine ursprüngliche Einstellung zurück. Sie brauchte eine Weile, bis sie herausfand, was er eigentlich tat.
    Er beobachtete die Meryons.
    Jane hatte dem sechsbeinigen Volk niemals viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sie waren die kleinsten aller intelligenten Wesen, übriggebliebene Abkömmlinge von Kobolden, die durch evolutionäre Prozesse über Äonen hinweg auf die Größe von Ameisen geschrumpft waren. Die Rückentwicklung hatte sie gleichzeitig von solchen Dingen wie Mitleid, Höflichkeit, Ehre und Ehrgeiz befreit. Ihre Kriege waren das reinste Gemetzel. Sie hatten weder Literatur noch Lieder. Sie liebten nichts außer Plackerei. Jane verstand nicht, weshalb 7332 sie beobachtete.
    Durch das Gras huschten winzige Gestalten. Sie trugen Metallstücke, die dreimal so groß waren wie sie selbst. Von ihren unterirdischen Schmieden stiegen hier und dort schwache blaue Rauchfädchen zwischen den Gräsern auf. Aus der Entfernung hätte man sie für Bodennebel halten können.
    Ein Meryon trudelte einen fast unsichtbaren Weg entlang. Er zog einen mit drei Drosselspulen hoch beladenen Wagen. Wo ein Geländefahrrad eine Spur im Boden hinterlassen hatte, waren zwei Strohhalme in Achsenbreite als Brücke über die Furche gelegt worden. Am anderen Ende stand eine winzige Amazone mit einem Speer von der Länge einer Teppichnadel. Sie winkte den Arbeiter weiter.
    Der Fuhrmann zog seine Ladung zur Schnauze eines Staubsaugers, der aus dem Schmutz hervorragte, und verschwand in dessen Maul. Jane blinzelte, und während eines vorübergehenden Schwindels ging ihr auf, daß das, was wie verstreuter Müll unter den Bäumen ausgesehen hatte, eigentlich ein wohlgeordnetes Dorf war. Hier diente ein Pfeifenstummel als Feuerstelle für eine vergrabene Hütte mit einem Dach aus Eierkartons und einem Eichelnapf als Kaminabdeckung. Eine halb im Boden versunkene Kaffeekanne war eine Nissenhütte, worin ein Paar Feldmäuse untergebracht war. Sie waren dazu abgerichtet, Geschirr zu tragen, und hatten die Aufgabe, die wirklich schweren Lasten zu ziehen. Straßen wurden angelegt, erweitert und mit abgeschnittenen Pflanzen getarnt. Ein rostiges Bügeleisen war mit Fäden an Hunderten schwer arbeitender Junikäfer befestigt und diente als Planiermaschine für die größeren Hauptstraßen.
    Die Meryons waren emsig in Bewegung, ruhelose Mikroingenieure, winzige Meister der Improvisation. Drei Eichenblätter, die zu einem konischen Dach festgesteckt waren, beschatteten ein Mayonnaiseglas, das die Wasservorräte beherbergte. Ein System von Strohhalmen leitete dieses Wasser in jedes verborgene Haus und jeden Bau des Weilers.
    Jane war hingerissen.
    Sie betrachtete die winzige Welt, bis das Licht zu schwach wurde und es nichts weiter zu sehen gab außer dem gelegentlichen Glühwürmchen-Gefunkel einer Laterne, die von der unsichtbaren Faust eines Grenzwächters getragen wurde, und dem geisterhaften Licht des Prototyps einer Methanfabrik. Obwohl die einzelnen Individuen äußerst schlicht beschaffen waren, war die Meryon-Gesellschaft als Ganzes gesehen ebenso kompliziert und eigentümlich faszinierend wie eine kristallene Taschenuhr.
    Jane sah auf und bemerkte, daß sie steif und müde war, und ihr fiel ein, daß sie noch Hausaufgaben zu erledigen hatte. Nun, sie konnte es sich leisten, ihre Aufgaben gelegentlich nicht zu machen; es war nicht so, daß irgendeiner ihrer Lehrer sehr viel von ihr erwartet hätte.
    Dann erinnerte sie sich daran, daß sie Peter versprochen hatte, an diesem Abend das Band von ›Conjunction of Opposites‹ für ihn zu klauen. »Scheiße!« Es war vielleicht gerade noch Zeit, den Bus zum Einkaufszentrum zu erwischen, doch es würde knapp werden. Wie dem auch sei, sie hatte wirklich keine Lust, zu dieser späten Stunde rennen zu müssen, um die Verbindung zu bekommen, dann für ein kurzes Nickerchen einen Abstecher ins Cineplex zu machen, damit sie keine blöden Fehler begehen würde, in den Musikladen zu schwirren und eine Dose von dem oder jenem zu klauen, um den Hunger zu stillen, eine freie Bank zu suchen und die Bücher durchzuackern und schließlich zurückzuhetzen, um den Red-Eye-Express zu erwischen. Das war zuviel für ein leichtfertig hingeworfenes Versprechen.
    Doch am Ende tat sie genau das.
    Aber sie trödelte zu lange

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