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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Karzer gescheucht.
    Jane verspürte eine leise Berührung am Handgelenk. Sie fuhr herum, und es war niemand da.
    Inzwischen war Salome auf eine verzweifelte Geste Ratsnickles hin auf ihren Platz zurückgeschlüpft. Es war typisch für Ratsnickle, daß er eine solche Gelegenheit als erster erkannte: nämlich die erstbeste Gelegenheit, sich hinzusetzen und vergessen zu werden. Salome wirkte benommen. Leise fragte sie: »Hee, ich glaube nicht, er ... He.«
    Der Kinderfänger räusperte sich. »Nun, wo bin ich stehengeblieben?« Sein scharfer Blick musterte die letzte Reihe und verweilte dieses Mal auf Jane. »Ah, ja.«
    Erneut zog er den Stoffetzen aus der Tasche.
    Als er die Luft einsog, blies ein schauriger Wind durch Jane hindurch. Sie zitterte vor Kälte und verspürte ein merkwürdiges Gefühl der Schändung. Der Kinderfänger starrte sie noch immer an. Er kniff die Augen zusammen.
    Langsam sank der Fetzen ihrer alten Decke von seiner Nase herab.
    Die Geräusche und Gerüche des Klassenzimmers verebbten wie der Lärm eines Radios gleich nach dem Abschalten. Voller Panik bemerkte Jane, daß sie keine Luft mehr bekam. Im Raum war es totenstill. Ihre Klassenkameraden saßen so reglos da wie leuchtend bemalte ausgeschnittene Pappfiguren.
    Der Kinderfänger wandte sich Grunt zu und hob ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Er schüttelte den Schulmeister und legte ihn dann flach auf das eigene Pult.
    Ohne Eile ging der Kinderfänger durch die Reihen, pflückte dabei die Kinder aus ihren Stühlen und legte sie sich über den Arm. Wenn der Haufen zu groß wurde, kehrte er nach vorn zurück und lud sie auf ihrem Lehrer ab. Die letzte Reihe hob er sich bis zum Schluß auf. Alle Kinder außer Jane trug er nach vorn. Jane zitterte und versuchte, seinem Blick auszuweichen. Als letzten entfernte er den noch immer höhnisch grinsenden Ratsnickle. Obenauf legte der Kinderfänger Strawwe, der noch immer glotzäugig und empört aussah.
    Er zog einen Stuhl hinter dem Pult hervor und setzte sich.
    »Komm her!« Der Kinderfänger winkte Jane zu. »Setz dich auf meinen Schoß, und wir werden reden.«
    Die Beine waren knochig und hart; Jane war es peinlich, dort zu hocken. Sie starrte die Rückwand an. Eine behandschuhte Hand drückte und massierte ihr die Schulter. »Ich habe die Macht, dich auf der Stelle gewaltsam wegzubringen. Bezweifelst du das?«
    Außerstande zu sprechen, schüttelte Jane den Kopf.
    »Ich bin die Hand des Gesetzes, Jane, und es ist wichtig, daß du meine Macht über dich verstehst und anerkennst. Als du klein warst, wurde ein Pakt geschlossen, ein bindender Vertrag, dessen Paragraphen du auf ungesetzliche Weise entkommen wolltest. Du wirst sagen, das war dein Recht, da du ein Unrecht erlitten hast, und daß es ein Unrecht gewesen ist, weil die Unterschrift auf dem Vertragsdokument nicht die deine war.« Er hob die Schultern. »Aber du warst - du bist es noch immer - minderjährig, und vor dem Gesetz würde deine Unterschrift nichts bedeuten. Falls eine Ungerechtigkeit besteht, wurzelt sie für dich zu tief in der Vergangenheit, als daß du etwas dagegen unternehmen könntest.« Er faßte sie mit einer Hand am Kinn und drückte es hoch, so daß sie ihm ins Gesicht sehen mußte. Seine Brauen waren dunkel und struppig. Die Augen waren so flach und ruhig wie zwei Spiegel.
    »Das siehst du ein, nicht wahr?«
    Jane wand sich, sagte jedoch nichts. Er könnte sie töten, er könnte sie in die Drachenwerke zurückschicken, damit sie auf immer dort arbeitete. Aber er könnte ihr niemals das Eingeständnis abringen, daß er recht hätte.
    Daraufhin seufzte der Kinderfänger, als wäre er zutiefst enttäuscht von ihr. »Ich komme aus dem Norden. Dort jagen wir Affen mit einer weithalsigen Flasche und einem Stock. Weißt du, wie das geht?«
    »Nein«, piepste sie.
    »Es ist sehr erheiternd. Wir werfen eine süße Kirsche in die Flasche und ziehen uns dann ein Stück zurück. Der Affe kommt vorüber. Er sieht die saftige Kirsche, greift hinein in die Flasche und packt die Frucht mit der Faust. Aber die Flasche ist so geformt und bemessen, daß der Affe die Hand nicht zurückziehen kann, wenn er sie zur Faust geballt hat. Er könnte leicht entkommen, wenn er die Kirsche losließe, aber er ist zu gierig auf den kleinen Leckerbissen. Er kann sich nicht dazu überwinden, ihn loszulassen. Selbst wenn der Jäger pfeifend und stockschwingend auftaucht, kann der Affe seine Beute einfach nicht im Stich lassen.
    Also tritt der

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