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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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widerstrebenden Bedürfnissen konnte sie keinem nachgeben und rührte sich am Ende einfach nicht.
    Etwa um Mitternacht ging der Mond auf, und kurz danach regte sich etwas mitten auf Peters Stirn. Langsam bildete sich ein schmaler schwarzer Riß und weitete sich. Das Gesicht brach auf wie sprödes Papier.
    Etwas Dunkles kroch aus dem Riß. Es spreizte feuchte Schwingen, pulsierte und flog dann davon. Weitere dunkle Flecken traten aus Peters Schädel hervor, erst einer, dann drei und dann fünf zugleich. Sie hielten kurz inne und flogen daraufhin los. Ein dünner Strom bildete sich, wurde breiter und floß davon.
    Es war ein Hornissenschwarm.
    »Komm!« Eine kleine Hand - eine Kinderhand -faßte die ihre und führte sie weg.
    Sie hatte eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, ehe ihr einfiel, neben sich zu blicken und nachzusehen, wer sie führte. Als sie es dann tat, war der Anblick so unerwartet, daß sie den eigenen betäubten Sinnen fast nicht glauben wollte.
    Es war der Schattenjunge.
    Zuviel war geschehen; sie konnte nicht reagieren. Sie gingen weiter, sprachen kein Wort. Meilen verstrichen. Am Schulhof ließ der Schattenjunge sie los und sagte: »Ich bin hergekommen, um mich zu verabschieden.« Er lächelte traurig. »Ich kann dir nicht mehr helfen. Sie haben die Suche nach dir eingestellt, und der Kinderfänger ist abberufen worden. Ich werde jetzt in die Fabrik zurückkehren.«
    »Die Fabrik«, sagte Jane. Es fiel schwer, an die Fabrik zu denken. Sie versuchte, etwas Angemessenes zu sagen. »Wie geht es allen dort?«
    »Allen geht es dort gleich. Es ändert sich niemals etwas.« In der Stimme des Schattenjungen schwang Wehmut. »Das kann’s nicht.« Er bewegte sich und war verschwunden.
    »Warte!« rief Jane. »Die ganze Zeit über in den Schatten, das ... bist du gewesen?«
    Hinter ihr sagte der Schattenjunge: »Der Kinderfänger hat mich mitgebracht, damit ich bei der Suche nach dir helfe. Wie ein Bluthund, weißt du.« Sie fuhr herum und erwischte den Bruchteil seines scheuen Lächelns. »Er hat weniger Kontrolle über mich, als er gedacht hat. Ich hab nicht viel tun können. Aber ich habe dir soviel Schutz gegeben, wie ich konnte. Am Mittsommertag, beim Freudenfeuer. Ich habe deinen Lehrer geholt, als du angegriffen wurdest. So was in der Art.«
    »Du hast das getan? Warum hast du das alles auf dich genommen?«
    »Ich bin dein Freund.« Eine sanfte papierhafte Berührung seiner Hand. »Freunde helfen Freunden.«
    Sie drehte sich um und wollte die Berührung mit einer Umarmung erwidern, doch da war nichts. Das Gefühl einer phantomhaften Gegenwart, das sie während der vergangenen Monate heimgesucht hatte, war verschwunden.
    Langsam, erschöpft, kehrte Jane zur Müllkippe zurück.

    Der Drache war verschwunden.
    Ungläubig wanderte Jane über den Platz, wo er gestanden hatte. Der tiefstehende Mond warf gerade genügend Licht, um zu erkennen, daß es dort lediglich noch aufgewühlte Erde gab.
    Die Meryons waren ebenfalls verschwunden. Ihre Gebäude waren dunkel und verlassen. Jane stolperte über ihre Grenze und wurde nicht bedroht. Eine Nissenhütte zerbröselte unter ihren Füßen, und sie wurde nicht angegriffen. Sie gelangte zu einem ordentlichen Haufen aus Decken und Kleidungsstücken, zusammengerollten Postern, Schulbüchern, Bürsten und Kämmen. Es waren ihre gesamten Besitztümer, die sie seit ihrer Flucht aus der Fabrik angehäuft hatte. Sie kreischte auf.
    »Meine Sachen ! Du hast meine Sachen einfach draußen im Freien gelassen!«
    Gleichgültig gegenüber den Folgen rief sie Melanchthon mit all ihrem Willen, heulte seinen wahren Namen über die Müllkippe und rief die Codes von den Listen, die sie sich vor so langer Zeit eingeprägt hatte, daß sie jeder hören könnte.
    Eine Stimme antwortete aus dem Boden heraus.
    Verschwinde. Du wirst nicht mehr gebraucht.
    Seine Stimme war machtvoller denn je. Bei ihrem Klang vibrierte ihr Schädel, und die Zähne klapperten.
    »Wir haben eine Abmachung getroffen«, erinnerte sie ihn. »Du sollst mich schützen.«
    Und wer hat die Abmachung zuerst gebrochen? Hm, kleine Jungfrau?
    Seine Verachtung versengte ihr das Gesicht und hinterließ kleine Blasen auf Nase und Wangen. Sie schrie vor Schmerz auf. Aber sie konnte sich nicht mehr beherrschen. »Du Mistkerl! Du hast das alles geplant, du hast alles arrangiert, es ist alles dein Werk, ich weiß es! Ich werde dir die Drähte herausreißen - ich werde dich mit bloßen Händen auseinandernehmen!«
    Eine

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