Die Tochter des stählernen Drachen
Gliedmaßen heraus. Sie stand auf und blickte sich um.
Über den Bäumen, in Richtung Westen, verschmolzen Feentürme mit einem grauen Himmel. Die Wolkenkratzer bildeten eine einzige silhouettenhafte Mauer. Ein magischer Smog hing über der Stadt, krank an Möglichkeiten.
12
Sirins Experimente gelangen immer.
Das war’s, was Jane wurmte. Sie mochten identische Apparaturen aus Retorten und Glasrohren aufbauen, sie mit Bunsenbrennern aus demselben Hahn erhitzen, die Flamme auf die gleiche Höhe und Farbe einstellen, bis aufs Gramm gleiche Mengen von Ammoniumsalz und ausgebluteter Krötenleber denselben Flaschen entnehmen, und am folgenden Morgen enthielt Sirins Destillierkolben ein azurblaues ätherisches Öl, in dessen Tiefen der Geist eines Lichts tanzte, während Janes Kolben schwarz war von einer verkohlten Schmiere. Sie mußte für jedes Glasteil bezahlen, das in unbrauchbarem Zustand zurückgegeben wurde, also folgte eine gut viertelstündige Schrubberei mit der Bürste am Ausguß, ehe das Ding schließlich gnädigerweise in ihren Händen zersprang. Es schien, als wären ihre Finger stets blutig und verbunden, wohingegen Sirins Finger lang, schlank und weiß wie Milch waren.
Es war nicht gerecht.
Enttäuscht trat sie aus dem Alk-200-Labor und ließ sich von der Menge mittragen. Der Flur hallte wider von klappernden Hufen und Fersen. Alle Studenten waren in Eile, schritten rasch aus, betraten hastig diesen oder jenen Seminarraum, tauchten plötzlich aus Seitengängen auf, die nicht breiter als eine Tür waren. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Janes Hälfte des Verkehrsstroms ergoß sich jäh ein breites Marmortreppenhaus hinab und riß sie mit. Sie stieg drei Etagen hinab und erreichte den Hörsaal für Anatomie, als gerade die Glocke läutete.
Monkey war in wohlwollender Stimmung und hatte ihr einen Platz am Geländer freigehalten. Jane nickte ihr einen Dank zu, als Monkey ihren Bücherstapel weghob. Vergleichende und Spekulative Anatomie war eine von Janes Lieblingsvorlesungen. Sie freute auf das nächste Semester, wenn sie selbst etwas sezieren sollte.
»Sind wir immer noch bei dem Zentaur?« flüsterte sie.
»Nein, er wird wohl inzwischen verfault sein.« Monkey kicherte, ließ einen Fuß aus dem Schuh rutschen und zupfte an einer Haarsträhne. »Wenn man sich das Vergleichsobjekt so anschaut, wird heute bestimmt was Hübsches aufgeschnitten.«
»Wird auch Zeit.«
Die Studenten in den hufeisenförmig angelegten schmalen Rängen setzten sich, eine lebhafte Welle von Schnäbeln und Fledermausflügeln, Hörnern, Schakalsköpfen, Halstüchern und Pferdehaarbüschen. Das Vergleichsobjekt unten stand neben dem linnenbedeckten Seziertisch. Es war ein gutgebauter junger Elf in einem olivfarbenen Bademantel, das die Abteilung zur Verfügung stellte. Er hatte glattes schwarzes Haar und einen verächtlichen Blick - er musterte gerade kühl das Auditorium -, und als sein Blick auf Jane traf, erschauderte sie unwillkürlich, als hätte sie jemand mit Eis im Genick berührt.
Die Chirurgin schritt in den Hörsaal. Die Stühle klapperten leise, als die Studenten aufstanden. Ernst und imposant brütete sie über dem Leichnam, die Hände gefaltet, wie eine Priesterin am Altar. Nachdem sich die Studenten wieder gesetzt hatten, nickte sie zu beiden Seiten. Ein Assistent zog die Leinendecke zurück. Das Vergleichsobjekt legte den Mantel ab und stellte sich nackt neben den Seziertisch.
Monkey kniff die Augen zusammen. Sie schrieb eine große ›7‹ oben auf ihren gelben Notizblock. Eine Nixe auf der anderen Seite neben ihr streckte die Hand aus, kritzelte unter die 7 ›6,5 höchstens !‹ und unterstrich das Wort ›höchstens‹ dreimal.
Monkey senkte den Kopf, um ein Gelächter zu unterdrücken.
»... die Verbreitung und Häufigkeit der kleineren Organe«, sagte die Chirurgin gerade, »insbesondere der Gallenblase, der Nebennieren und Nieren.« Sie wies hinab auf den Leichnam, einen grauen Zwilling des jungen Elfs neben ihr. »Die Bauchhöhle ist bereits zum Teil durch einen Querschnitt und einen tieferliegenden vertikalen Einschnitt geöffnet worden. Jetzt werde ich die Operation fortsetzen, indem ich einen zweiten vertikalen Einschnitt durchführe und die Peritonealhöhle öffne.«
Hände von einer Farbe wie Knochenporzellan schwebten elegant herab, um den ersten Schnitt auszuführen. Sie schnippten ein unsichtbares Stück Gewebe auf den Fußboden, ein Opfer an die Göttin.
Ein Ellbogen stieß Jane
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