Die Tochter des stählernen Drachen
Röhre schoß aus dem Boden ihr zu Füßen, verhakte sich und ragte in einem völlig verrückten Winkel gen Himmel. Jane tänzelte zurück. Neben ihr richtete sich ein Stahlturm auf, schnellte hoch zum Mond und schüttelte dabei Schmutz ab. »Aufhören!« rief Jane. Aber ringsum sprossen Metallgebilde - Platten und Chromwände -, knallten und klirrten gegeneinander, versperrten den Horizont und verbargen Sterne und Wolken. Ein eisernes Bollwerk wölbte sich über ihr, schloß sich klirrend zu einer festen Mauer, und dann erstarb jegliche Bewegung.
Jane war in einer stählernen Stadt ohne Fenster und Türen eingeschlossen.
»Wo bin ich?« schrie sie entsetzt.
»Ort ist Illusion.« Die Stimme kam aus einem Gang neben ihr. Sie fuhr herum und sah einen Krieger näher kommen. Er war gutaussehend wie ein Elf, trug einen Tarnanzug und an seinem Gürtel eine Pistole in einem zugeknöpften Holster. »Das ist eines der ersten Dinge, die Melanchthon uns gelehrt hat.« Der Mund des Kriegers bewegte sich, jedoch nichts sonst. Die Augen waren schwarzer Bernstein. Es hätte ebensogut eine sprechende Maske sein können.
»Du kennst seinen Namen«, sagte Jane ausdruckslos.
»Ein Drache ist nicht wie die meisten anderen Wesen. Die Kenntnis seines wahren Namens verschafft dir keine Macht über ihn, solange du nicht auch seine Kontrollsysteme beherrschst.«
Es stimmte. Jane wußte, daß es stimmte, wie bitter es auch schmeckte. »Wer seid ihr?« fragte sie.
»Wir sind der Ersatz für dich.«
Sie betrachtete ihn eingehender. Ihr war jetzt klar, daß sie sich nicht auf einer physikalischen Ebene trafen, sondern an irgendeinem von Melanchthon ersonnenen virtuellen Traumort. Sie musterte die vereinfachten Flächen des Gesichts des Kriegers, die gleichmütige, gefühllose Miene. Ihre Vorstellung des Maßstabs kehrte sich jäh um, und ihr ging auf, daß sie nicht innerhalb der überdachten Passage einer riesigen Stadt stand, sondern verkleinert unter den Kolben und Aggregaten des Drachen abgesetzt worden war. »Du bist ein Meryon.«
»Ja. Das sind wir. Melanchthon braucht noch immer Arbeiter, und du hast mit dem Verlust deiner Jungfräulichkeit die Neutralität der Macht verloren. Deine Hände sind nicht mehr pH-neutral. Seine Schaltkreise würden bei deiner Berührung durchbrennen. Du könntest nicht einmal eine Abdeckplatte öffnen, ohne das Gleichgewicht der Ladung im Innern zu zerstören. Wir jedoch reproduzieren uns asexuell. Wir haben unsere Industrieanlagen abgebaut und in den Thorax des Drachen gebracht, so daß wir uns seiner Reparatur und Instandhaltung widmen können.« Er winkte einen langen Korridor hinab, wo winzige Arbeitslichter auf Oberflächen aus Kupfer, Stahl und Molybdän schimmerten. »Sieh, welch Arbeit wir bereits erledigt haben!«
»Was springt für euch als Gegenleistung heraus?«
»Schutz«, sagte der Meryon. »Und genügend Weizen, damit wir durch den Winter kommen.«
»Ihr würdet seinen Schutz oder Weizen nicht brauchen, wenn er es nicht so eingerichtet hätte. Er hat sich in eure Kultur eingemischt, hat euch getäuscht, so daß ihr nicht genügend Nahrung für euch angebaut habt, und er hat euch abhängig gemacht von Kohle und Beutezügen, damit ihr überleben konntet, während er die ganze Zeit über gewußt hat, daß euch das an den Rand des Verhungerns bringen würde.«
»Die Starken mißbrauchen die Schwachen«, sagte der Meryon. »Warum sollte das jemanden stören? Das ist ein Naturgesetz.«
Da ging Jane ein Licht auf. Weil er ihre Hilfe nicht mehr benötigte, hatte Melanchthon sie durch Manipulation so weit gebracht, daß sie ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. Damit war ihr Kontrakt gebrochen, und er war aufgrund dessen von der Notwendigkeit befreit, das eigene Wort zu halten. »Ich könnte noch immer gegen ihn kämpfen, weißt du.« Sie war müde und kam sich nutzlos vor. »Gleich hier und jetzt. Ich kenne seine Verdrahtung in- und auswendig - ich könnte ihm ernsthaften Schaden zufügen.«
»Ja, aber könntest du auch gewinnen?«
Darauf wußten beide die Antwort.
Die Metallwände lösten sich auf und damit auch der Meryon. Der Geruch der Müllhalde stieg Jane wieder in die Nase, und sie stand neben dem Kleiderhaufen. Sie hockte sich hin und hob einen Armvoll der besten Stücke auf. Sie war so müde. Irgendwo mußte es einen Ort geben, wo sie Obdach fände.
In jener Nacht schlief Jane in einer Holzkiste am Rand der Müllhalde. Am Morgen kroch sie mit wunden und schmerzenden
Weitere Kostenlose Bücher