Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
kam
schneller über ihre Lippen, als sie nachdenken konnte. Sie bat Gott um Vergebung
dafür. »Ich werde sehen, ob er Euch empfangen kann.«
Jolanthe
nahm zwei Treppenstufen auf einmal, dann lief sie zu Winalds Tür und riss sie auf.
Ihr Vater blinzelte, als er sie so ungestüm hineinstürzen sah.
»Der Zunftmeister
ist da. Er will nach dem Rechten sehen, er weiß nichts von Eurem Unfall, was sollen
wir …«
»Setz dich.«
Winald klopfte neben sich auf das Bett. Seine Ruhe verstärkte ihre Nervosität. Trotzdem
gehorchte sie ihm, ließ sich neben ihn sinken. »Natürlich weiß der Zunftmeister
nichts von meinem Unfall«, sagte er in einem Ton, als rede er mit einem kleinen
Kind. »Wenn ich ihn hätte unterrichten wollen, hätte ich euch davon in Kenntnis
gesetzt.«
Jolanthe
schluckte die Entgegnung herunter, dass sie wohl selbst auch hätten entscheiden
können, ob sie um Hilfe bitten wollten, und sagte stattdessen: »Wenn er Euch so
sieht, was wird er dann tun?«
»Hol mir
meine Kleider.« Winald deutete auf eine Truhe, die unter dem Fenster stand.
Jolanthe
brauchte ein paar Augenblicke, um zu verstehen, auf was er hinauswollte. »Ihr könnt
nicht aufstehen, Vater.«
»Hol mir
die Kleider!« Mühsam setzte er sich auf, schob mit schmerzverzerrtem Gesicht das
verletzte Bein über die Bettkante. Jolanthe drehte sich um und lief zur Truhe, zog
wahllos Beinlinge und ein Wams heraus und brachte es zu ihm. Sie half ihm beim Anziehen.
Der linke Unterschenkel war zu dick geschient und mit Bandagen umwickelt, als dass
sie etwas hätte darüber ziehen können, also unterließ sie es und griff sich eine
Decke, die Sieglinde auf einer zweiten Truhe abgelegt hatte.
»Ich brauche
meinen Stock.« Winald deutete mit dem Kopf zu einem Gehstock, der an der Wand neben
der Tür lehnte. Offenbar hatte er mit Sieglindes Hilfe bereits Gehübungen gemacht.
»Wir müssen dem guten Heinrich ein kleines Schauspiel bieten, sonst wird er sich
in mein Geschäft einmischen. Das dulde ich nicht.«
»Natürlich
nicht«, antwortete Jolanthe und hielt ihn. Wie der Vater in seinem Zustand Gesundheit
vorspielen wollte, blieb ihr ein Rätsel, doch sie sagte nichts mehr.
»Wo ist
er?«
»In der
Küche bei Sieglinde.«
»Dann bring
mich in die Stube und führe ihn zu mir.«
»Er glaubt
vermutlich, dass Ihr auf Reisen ward. Ich habe das allen erzählt, um Fragen zu vermeiden.«
»Ich habe
zwei sehr tatkräftige Töchter.« Winald lächelte, doch seine bleiche Gesichtsfarbe
und der verkniffene Mund verrieten seine Anspannung.
Gütiger
Gott, bitte steh ihm bei, flehte Jolanthe und biss sich auf die Lippe. Wenn der
Lechner ihre Finte durchschaute, wollte sie nicht in Winalds Haut stecken.
Ihr Vater
stützte sich schwer auf ihre Schultern, als sie gemeinsam über den Flur gingen.
In der Stube angekommen, setzte er sich hinter den Tisch. Jolanthe arrangierte ein
paar Papiere vor ihm, sodass es so aussah, als arbeite er. Dann breitete sie die
Decke über seine Beine, und wischte ihm mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.
»Das Sitzen
strengt mich an. Beeile dich!« Winald wedelte mit der Hand in Richtung Tür.
Unten in
der Küche fing Jolanthe einen besorgten Blick Sieglindes auf, als sie den Zunftmeister
nach oben bat.
»Mein Vater
erwartet Euch. Ihm ist nicht sehr wohl, die Fahrt, auf der er sich befand, war anstrengend.«
»Ich werde
ihn nicht lange behelligen.«
Er war offensichtlich
ungeduldig, denn er schob sich an Jolanthe vorbei und nahm den Weg nach oben so
rasch, dass sie kaum folgen konnte.
»Was tust
du?«, flüsterte Sieglinde hinter ihr, doch Jolanthe legte nur den Finger auf die
Lippen und bedeutete ihr, im Gang zu bleiben.
»Mein guter
Heinrich, was führt Euch zu mir«, hörte sie den Vater aus dem Zimmer rufen. Seine
Stimme klang kraftvoll wie schon lange nicht mehr, und als sie den Raum betrat und
sich unauffällig neben die Tür an die Wand drückte, sah sie, wie Winald den Zunftmeister
mit einem strahlenden Lächeln begrüßte.
»Ihr seht
matt aus. Man hört hier und da, es ginge Euch nicht gut.«
»Kein Grund
zur Besorgnis, mein Guter. Setzt Euch. Was wollt Ihr trinken?«
»Ich wurde
unten bestens bewirtet, danke. Eure Tochter Sieglinde ist nicht nur ausnehmend hübsch,
sie ist auch sehr geschickt als Gastgeberin.«
»Was führt
Euch her?« Winald verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Sein
Lächeln wirkte nicht gespielt, und bis auf die bleiche Gesichtsfarbe war ihm nichts
anzumerken.
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